Bei der Türkei handelt es sich laut Verfassung um eine parlamentarische Demokratie, bei welcher die “Große Volksversammlung der Türkei” vom Volk direkt für vier Jahre gewählt wird. 2011 zogen so drei Parteien ins Parlament: Die konservativ ausgerichtete Regierungspartei „Die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“ (AKP), bei welcher auch Erdoğan vor seiner Wahl zum Präsidenten Mitglied war. Die oppositionelle „Republikanische Volkspartei“ (CHP) ist sozialdemokratisch orientiert. Ferner ist auch die rechtsextreme „Partei der Nationalistischen Bewegung“ (MHP) im Parlament vertreten. Doch könnte diese Wahl einen Wendepunkt in der parlamentarischen Geschichte der Türkei darstellen.
Mit dem Koran in der Hand: Erdogans Kampagne für eine Präsidialregierung
Des Pudels Kern besteht nämlich in den Bestrebungen des türkischen Präsidenten eine Präsidialregierung einzuführen, um dem Posten des Präsidenten mehr Kompetenzen zuzuführen und möglichen Widersprüchen mit den Ministern zu entrinnen. So zieht Erdogan während der letzten Monate mit seinem eigenen Wahlkampf durchs Land. Symbolisch den Koran vor sich her schwingend, predigt er die Präsidialregierung und macht auf die Schwächen des momentanen parlamentarischen Systems aufmerksam. Unterstützt wird Erdogan dabei von seiner ehemaligen Partei, der AKP. Die Durchsetzung dieser Pläne kann jedoch nur durch eine umfassende Verfassungsänderung realisiert werden. Dies setzt wiederum eine Zwei-Drittel-Mehrheit voraus.
Politisches Klima eher ungünstig
Wie realistisch ist jedoch ein solches Vorhaben? Die AKP müsste es schaffen rund 400 Sitze auf sich zu vereinigen, also 60 Prozent aller abgegebenen Stimmen. Bei den Regionalwahlen 2014 betrug ihr Anteil jedoch lediglich 46 Prozent. Eine andere Möglichkeit wäre, mit 330 bezogenen Sitzen die Verfassungsänderung einem Referendum zu unterstellen. Doch ob es überhaupt für eine solche 3/5 Mehrheit reicht ist ebenfalls höchst ungewiss. Denn das politische Klima in der Türkei hat sich innerhalb der letzten Jahre stark gewandelt. Immer mehr Menschen reagieren zunehmend kritisch auf den autoritären Stil der AKP-geführten Regierung, wie es bei den Protestwellen 2013 zuletzt deutlich wurde. Laut einer Studie der Koc Universität schwindet das Vertrauen in die regierende Partei AKP zunehmend. Immer mehr Türken gehen von einem korrupten Staatsapparat aus, der unfähig ist, auf die zukünftigen Probleme des Landes wie Arbeitslosigkeit und ökonomische Stagnation angemessen zu reagieren. 42 Prozent glauben sogar, dass die Oppositionspartei Atatürks, die CHF, eher in der Lage wäre, die Korruption im Staat zu bekämpfen, als die momentane Regierung.
Eine pro–kurdische Partei im Parlament?
Zudem stehen unabhängigen Beobachtern zufolge die Chancen gut, dass zum ersten Mal die junge pro-kurdische Partei HDP (Demokratische Partei der Völker) die höchste existierende Sperrklausel der demokratischen Welt von 10 Prozent nehmen wird und ins Parlament einzieht. Diese jüngste Partei in der Türkei sieht sich selbst als eine linke Alternative auch für andere Minderheiten. Momentan würde die HDP laut Schätzungen zwischen 50 und 55 Sitzen für sich beanspruchen. Und das auf Kosten der AKP. Würden gleichzeitig auch die beiden anderen Oppositionsparteien CHP und MHP ihre Ergebnisse von den Regionalwahlen beibehalten, blieben für die AKP „nur“ ca. 286 Sitze übrig: ein Rekordtief!
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Koalition? Nein, danke!
Immerhin ein kleiner Sieg für den Präsidenten: Die AKP bliebe nach diesen Schätzungen Regierungspartei und auch für die nächsten vier Jahre an der Macht. Das Szenario einer Koalitionsregierung hingegen ist eher unwahrscheinlich. Vor „diesem Bösen“ hatten sowohl Erdogan, wie auch der derzeitige Premier Davutoglu in den vergangenen Wochen immer wieder eindringlich gewarnt.
Die Möglichkeit eines Referendums: das Volk entscheidet
Wenn der HDP jedoch der Einzug ins Parlament nicht gelingt, droht die AKP die benötigte Stimmzahl zu erreichen, um eine mögliche Verfassungsänderung, einem Volksentscheid zu unterstellen. Die Frage bleibt: was dann? Laut der Koc-Untersuchungen würden derzeit nur 27 Prozent ein solches Vorhaben unterstützen. Erdogan aber scheint, gestützt durch seine zwei bereits erfolgreichen Verfassungsreferenden in der Vergangenheit (2007, 2011) guten Glaubens, dass die Bevölkerung auch diesmal mitzieht.
Ob nun der türkische Präsident weiter beim „Demokratiezug“ mitfährt, ihn gar in Richtung Präsidialregierung steuert oder aber in der nächsten Kurve rausfliegt, wird sich dann am 7. Juni zeigen.
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