Proteste in Russland: „Jung genug, daran zu glauben, dass sich etwas ändert“

, von  Die Redaktion von treffpunkteuropa.de

Proteste in Russland: „Jung genug, daran zu glauben, dass sich etwas ändert“
In mehr als 100 Städten der russischen Föderation protestierten am Wochenende Russen gegen die ausufernde Korruption in ihrem Land. Vor allem junge Menschen gingen auf die Straße. © Till Rimmele / TR photography, zur Verfügung gestellt für treffpunkteuropa.de

Der Fotojournalist Till Rimmele hat am Sonntag die Proteste in Sankt Petersburg begleitet. Im Interview mit Treffpunkteuropa erklärt er, was Quietsche-Enten mit Korruption zu tun haben und warum grüne Gesichter ein Zeichen der Solidarität sind.

treffpunkteuropa.de: Nach Angaben von AFP haben am Sonntag mehr als 4000 Menschen an den Protesten in Sankt Petersburg teilgenommen. Wie erklärst du dir diese plötzliche Mobilisierung?

Till Rimmele: So plötzlich war die Mobilisierung nicht. Bereits drei Wochen vorher gab es die ersten Aktionen. Das Thema, das die Menschen auf die Straße treibt ist Korruption. Die Anti-Korruptionskampagne der von Alexej Nawalny geleiteten Stiftung zur Korruptionsbekämpfung hat viele Menschen erreicht.

Als Auslöser für die Proteste wird in der europäischen Presse häufig ein Video auf youtube erwähnt, das die luxuriösen Immobilien von Premier Medwedew zeigt. Das Video hat über 15 Millionen Klicks (inzwischen nicht mehr aufrufbar). Wie hast du die Verbreitung des Videos wahrgenommen?

Das Video hat in der Tat eine weite Resonanz in den sozialen Netzwerken gefunden. In meinem Bekanntenkreis wurde es von vielen geteilt. Auch von Menschen, die sonst eher unpolitisch sind.

Die Demonstration führte durch die Sankt Petersburger Innenstadt bis zum Winterpalast. © Till Rimmele

Wie war die Stimmung auf der Demonstration?

Es herrschte eine friedliche Stimmung. Aber auch eine gewisse Anspannung. Das lag vermutlich daran, dass die Demo nicht offiziell angemeldet werden konnte. Die Veranstalter hatten versucht, die Demo anzumelden. Allerdings hörten sie später von den Behörden, dass sich am gleichen Tag auf dem Platz eine Demonstration angemeldet hatte, die für traditionelle russische Werte demonstrieren wolle. Keiner wusste von dieser Demo, bis die Behörden sagten, dass der Platz bereits besetzt sei. Unter den Teilnehmern der Demonstration gegen Korruption wurde gescherzt, dass sie ja ebenfalls für russische Werte einstehen.

Welche Slogans wurden während der Demonstration gerufen, welche Plakate und Symbole sind dir aufgefallen?

Gerufen wurde „Putin, du Dieb!“ und „Medwedew ins Gefängnis!“. Einige Demonstranten hatten sich auch das Gesicht grün angemalt. Das ist eine Geste der Solidarität mit Alexej Nawalny. Ihm wurde vor einigen Wochen von regierungsnahen Leuten grüne Druckerfarbe ins Gesicht gesprüht. Wenn ihr denkt, dass mich das aufhält, habt ihr euch geirrt, soll er gesagt haben. Ein weiteres Symbol sind gelbe Quietsche-Enten. Das ist eine Anspielung auf Medwedew, die besonders harmlos wirken soll. (Mit einer Drohne haben die Macher des erwähnten youtube videos eine Aufnahme des Anwesens von Dimitri Medwedew gemacht. Zu sehen ist unter anderem ein Ententeich. Über das luxuriöse Entenhäuschen wird seitdem im Internet diskutiert, was zu dem Symbol der Quietsche-Ente führte. Anmerkung A. Molt).

Brillantgrün heißt der Farbstoff, den Regierungsanhänger liberalen Oppositionellen ins Gesicht sprühen um sie zu demütigen. Inzwischen ist das grüne Gesicht unter Regimegegnern ein Symbol der Solidarität. © Till Rimmele

Kam es zu Provokationen oder Gewalttaten seitens der Demonstranten?

Zwei Provokationen sind mir aufgefallen. Zuerst wurde auf dem Marsfeld eine Rauchgranate gezündet. Später wurde vor dem Winterpalast ein Transporter der Polizei beworfen. Die anderen Teilnehmer haben die Provokateure jedoch aus der Demo rausgeworfen. Es war den Leuten klar, dass sie der Polizei keinen Vorwand bieten wollten, um einzugreifen. Meine Kollegen, russische Fotojournalisten meinten, dass dies wahrscheinlich bezahlte Provokateure seien.

Die Demonstranten waren nicht gewaltbereit. Es war eine friedliche Menge. Die Leute waren eher verwirrt, dass es keine Reaktion der Polizei gab.

Wie hat sich die Polizei während der Proteste verhalten?

Sehr passiv. Kein Vergleich mit Moskau, wo die Polizei härter durchgegriffen hat.

Wann kam es zu ersten Festnahmen?

Während der Demo habe ich keine Festnahmen gesehen. Einmal habe ich beobachtet, wie ein Polizist einen Demonstranten festgehalten hat, ihn jedoch dann wieder laufen gelassen hat.

Erst nach der Demonstration kam es zu Festnahmen. Erst als ich und andere Fotojournalisten die Demo bereits verlassen hatten wurden Menschen festgenommen. Von Bekannten habe ich später davon erfahren.

Ein anderer youtube-hit war ein Video von einer Schulklasse, die mit ihrer Lehrerin über Korruption diskutiert, nachdem ein fünfzehnjähriger Mitschüler festgenommen wurde. Wie würdest du das Durchschnittsalter der Demonstranten in Sankt Petersburg einschätzen?

Zwischen 20 und 30. Ich habe auch einige jüngere Teilnehmer gesehen, die vielleicht achtzehn Jahre alt waren. Menschen, die jung genug sind, daran zu glauben, dass sich etwas verändern kann.

Welche Vorwürfe mussten sich die Demonstranten von Gegendemonstranten oder Passanten anhören?

Als wir auf dem Newski-Prospekt, also dem zentralen Boulevard Sankt Petersburgs waren, haben manche Leute gerufen: „Warum folgt ihr dem Nawalny. Ihr seid doch bezahlt!“, oder auch: „Macht doch was Anständiges!“. Die meisten Passanten haben die Demo jedoch schlichtweg ignoriert. Sie haben stoisch vor sich hingeschaut. Ein Verhalten, dem ich in Russland sehr oft begegne.

Das Interview führte Arthur Molt.

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