Themenschwerpunkt: Migration in Europa

Quo vadis EU: Fluchtursachen oder Flucht vor den Ursachen?

, von  Gianina Lotto

Quo vadis EU: Fluchtursachen oder Flucht vor den Ursachen?

Wenn man in diesen Tagen liest, dass sich Vertreter*innen der Europäischen Union und von Drittstaaten zu virtuellen Konferenzen in Sachen Politik gegenüber Geflüchteten treffen, sollte es dabei um die Bekämpfung von Fluchtursachen gehen. So wollte die EU zumindest nach den größeren Fluchtbewegungen der Jahre 2015-16 künftig dieses Thema angehen. Und das nicht ohne Grund: Immerhin trägt die EU eine Mitverantwortung für einige Hauptursachen von Flucht und Vertreibung. Tatsächlich aber zeigen die jüngsten Gespräche zwischen Merkel, Erdogan und Macron, dass es immer noch nur darum geht, wie Geflüchtete vom Übertreten der europäischen Grenze abgehalten werden können. Ein Kommentar.

Obwohl niemand gern seine Heimat verlässt, sind aktuell 70,8 Millionen Menschen auf der Flucht. Die UNO Flüchtlingshilfe geht von vier Hauptursachen dafür aus: Gewalt und Krieg, Missachtung der Menschenrechte, Hunger, sowie Klima und Umwelt.

Die EU ist für viele Fluchtursachen mitverantwortlich

An diesen Zuständen in einigen Regionen der Welt ist die Europäische Union nicht ganz unschuldig. Zum Beispiel fehlt es der Union an einer effektiven Friedenspolitik, die gewaltsame Konflikte zu verhindern oder beenden versucht. Gleichzeitig werden Klimaziele nicht erreicht. Wenn aber der Klimawandel weiter voranschreitet, könnten in vielen Ländern Felder aufgrund von Dürre nicht mehr bestellt und ganze Ortschaften von Naturkatastrophen zerstört werden. Unter anderem deshalb leiden die Betroffenen unter Hunger. Hunger und Armut werden darüber hinaus verschlimmert, weil Drittstaaten noch immer ökonomisch ausgebeutet werden.

Die Europäische Union beschäftigt sich aber lieber mit der Abschottung ihrer Außengrenzen statt mit diesen Ursachen der Fluchtproblematik. Die Verantwortung für die Flüchtenden schiebt sie dabei an andere ab. Die Drittstaaten werden nämlich auch weiterhin, etwa in Form von Entwicklungshilfe und Wirtschaftsvorteilen, dafür bezahlt, sich selbst um Fluchtursachen zu kümmern und die Flüchtenden möglichst gar nicht erst nach Europa gelangen zu lassen. Dass man dabei auch mit äußerst fragwürdigen Machthaber*innen zusammenarbeiten muss, spielt offenbar kaum eine Rolle. Statt also die Konflikte in den betroffenen Staaten anzugehen, werden lieber weiter lukrative Waffen in diese Gebiete exportiert. Sieben von zehn der größten Waffenexporteure sind westliche Länder, davon 6 EU-Mitglieder. Zwar gibt es offiziell in einigen EU-Staaten Regelungen zur Nicht-Auslieferung von Waffen in Kriegsgebiete, doch hier hagelt es Sondergenehmigungen.

Den in Europa ankommenden Menschen wird nicht ausreichend geholfen

Darüber hinaus wird häufig nur kurzfristige Nothilfe für Geflüchtete geleistet. Auch sprechen die EU-Mitgliedsstaaten beim Thema Politik gegenüber Geflüchteten längst nicht mit einer Stimme. Es gibt noch immer keinen allseits anerkannten Verteilungsplan. Oft verpflichtet sich ein Mitgliedsstaat nur zur Aufnahme einer bestimmten Gruppe von Geflüchteten. Und das auch nur wenn andere Staaten dafür ebenfalls eine Mindestanzahl an Geflüchteten aufnehmen. Auch die Registrierung und Erstversorgung derjenigen, die es nach Europa geschafft haben, wird bis heute vor allem von den südlichen Mitgliedsstaaten allein durchgeführt. Diese Überforderung für die einzelnen Staaten hatte in der Vergangenheit bereits wiederholt chaotische und mitunter nicht menschenwürdige Zustände für diejenigen zur Folge, die eigentlich mit der Hoffnung auf Besserung aus ihrer Heimat geflohen waren. Vereint in Vielfalt sieht anders aus.

Ein neuer Ansatz in der europäischen Migrations- und Fluchtpolitik ist nötig

Was also ist zu tun, wenn statt Flucht endlich Fluchtursachen bekämpft werden sollen? Vor allem geht es um die Umsetzung langfristiger Maßnahmen. Zunächst muss die EU ihre mediatorische Funktion in der Konfliktbewältigung über ihre derzeitigen diplomatischen Künste hinaus ausbauen, sodass sie bei der Lösung internationaler und innerstaatlicher Konflikte nicht länger an den eigenen Strukturen scheitert und weniger auf militärische Kompetenzen der USA angewiesen ist.

Weiterhin ist es zwar richtig, dass im Zuge der Flüchtlingsthematik mit Drittstaaten zusammengearbeitet werden muss. Allerdings nicht, indem man sie dafür bezahlt, niemanden an die europäischen Außengrenzen zu lassen, sondern indem man hilft, diese Staaten zivilgesellschaftlich und ökonomisch aufzubauen. Dadurch haben die Menschen in den betroffenen Ländern eine Perspektive und Terrorgruppen verlieren an Einfluss. Dabei darf die EU nicht mit diktatorischen Machthaber*innen kooperieren, vor deren Regimen die Menschen ja gerade fliehen, wenn sie ihren eigenen Werten treu bleiben will. Die aktuell vor allem kurzfristige Nothilfe muss außerdem kombiniert werden mit einer nachhaltigen und langfristigen Entwicklungszusammenarbeit der EU mit den Drittstaaten. All das kann aber nur gelingen, wenn alle Mitgliedsstaaten am selben Strang ziehen.

Dass die Europäische Union eine Mitschuld an den Hauptursachen von Flucht trägt, gibt ihr mehr als eine bloße moralische Verantwortung, aufgrund ihrer Werte etwas dagegen zu tun. Vielmehr steht sie nun in der Pflicht, die auch von ihr verursachten Probleme langfristig zu lösen. Doch das aktuelle Vorgehen der EU bleibt zu einseitig gegen das Flüchten gerichtet statt gegen dessen Ursachen. Eine authentische Europäische Union, die ihre vermeintlichen Werte authentisch umsetzt, darf aber vor ihrer Verantwortung nicht länger davonlaufen. Auch wenn es sich dabei um langfristige, teils zähe und vielleicht unbequeme Maßnahmen handelt, die es umzusetzen gilt. In der Zwischenzeit ist die Union es den Betroffenen schuldig, sich gerade in schwierigen Situationen für Menschenrechte stark zu machen. Das bedeutet auch, das Recht auf Asyl aktiv zu beherzigen. So ist die Fluchtthematik am Ende eine Chance für die EU, nicht nur Rückgrat zu beweisen, sondern auch zukünftig zum Vorreiter in Sachen Politik gegenüber Geflüchteten zu werden.

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