Republik Užupis: wo die Künste gedeihen

, von  Théo Boucart, übersetzt von Annika Klein

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Republik Užupis: wo die Künste gedeihen
Altes Haus mit verzierter Fassade im Stadtteil Užupis in der Mitte von Vilnius, der Hauptstadt Litauens. Fotoquelle: Théo Boucart.

Ein Ausflug zu einem der faszinierendsten Orte in Osteuropa: Užupis, ein winziger Stadtteil im Herzen der litauischen Hauptstadt Vilnius und Schauplatz der Entwicklung eines einzigartigen künstlerischen und kulturellen Lebensstils.

Rückblick: 25. Mai 2007. Ich sitze im Burger King am Berliner Alexanderplatz. Es ist gegen 20 Uhr und mein Flugzeug nach Vilnius soll um 7 Uhr vom Flughafen Schönefeld abheben. Das heißt, ich habe noch recht viel Zeit totzuschlagen. Ich blättere durch meinen Reiseführer „Baltikum“ bis zum Kapitel „Vilnius“. In dem Moment erregt etwas Ungewöhnliches meine Aufmerksamkeit: In einem Absatz erfahre ich von der Existenz der „Republik Užupis“, einem selbsternannten unabhängigen Stadtteil, der intellektuellen Künstlern Zuflucht bietet. Na sowas! Vilnius ist also nicht nur Kultstätte der Barockkunst oder sowjetischer Architektur?

Užupis wird daher einer der ersten Orte sein, die ich nach meiner Ankunft in Vilnius besuche. Am späten Nachmittag des 26. Mai betrete ich den Boden dieser „Republik“. Das Wetter ist herrlich, die Temperaturen angenehm mild. Die perfekte Zeit, um diesen Ort zu besuchen. Užupis bedeutet auf Litauisch „am anderen Flussufer“. Der Fluss, um den es hier geht, ist die Vilnia, ein kleiner Bach, der in die Neris, den Hauptfluss von Vilnius, mündet. Beim Überqueren der Brücke über den Fluss grüßt ein Schild mit der Aufschrift „Užupio – Res Publika“ den Besucher und heißt ihn im neuen Staat willkommen. Die russische, jiddische, weißrussische und polnische Übersetzung des litauischen Textes ruft uns den kulturellen Reichtum der Vergangenheit und Gegenwart des „Jerusalems des Nordens“ in Erinnerung.

Eine Republik von Künstlern, 1997 auf den Ruinen der sowjetischen Besatzung gegründet

Mit einer Größe von nur 60 Hektarn ist der selbsternannte unabhängige Stadtteil Užupis nach dem Vatikanstaat der zweitkleinste Staat der Welt. Die 7000 Seelen, die die Chance haben, an diesem malerischen Ort zu leben, konzentrieren sich entlang der Hauptstraße, der Užupio Gatvė, deren Verlängerung auf den bewaldeten Anhöhen von Vilnius Krivių Gatvė heißt. Daher ist es ein lang gestreckter, leicht abfallender Stadtteil. Zur Zeit der UdSSR waren die meisten Häuser nur baufällige Gebäude und Scheunen. Nach dem Ende der Sowjetzeit im Jahre 1991 erlebte der Stadtteil eine erstaunliche Renaissance: Zahlreiche Künstler fühlten sich von dem Ort angezogen, machten ihn zu ihrem Wohnort und riefen am 1. April 1997 die Republik Užupis aus. 2002 wurde eine Engelsstatue auf dem Hauptplatz aufgestellt, die die Wiedergeburt von Užupis symbolisiert.

Zu einer Republik gehört selbstverständlich auch eine Verfassung. In seinem Bestreben nach Universalismus hat Užupis seine Verfassung in etwa zwanzig Sprachen übersetzen lassen: Im Mai 2017 feierte Užupis gerade die Übersetzung ins Hindi. Alle Versionen dieses Textes findet man an einer Wand in der Paupio Gatvė. Artikel 1 lautet sehr poetisch wie folgt: „Jeder Mensch hat das Recht, am Fluss Vilnia zu wohnen, und die Vilnia hat das Recht, an jedem vorbei zu fließen.“ – eine Fabel mit starkem Bezug zur Umwelt... Die gesamte Verfassung ist sehr einfach und berührend (Artikel 10 schreibt vor: „Jeder Mensch hat das Recht, eine Katze zu lieben und für sie zu sorgen.“) oder auch verrückt (Artikel 12: „Ein Hund hat das Recht, Hund zu sein.“). Užupis ist ein Ort, wo die Süße des Lebens und die Sensibilität für Natur und Kunst dem Tumult einer modernen Stadt die Stirn bieten müssen.

Ein Ort mit Kuriositäten an jeder Ecke

Trotz seiner geringen Größe ist Užupis voller untypischer Winkel: ein kleiner Ort buddhistischer Erinnerung, umgeben von Gebetsfahnen direkt am Flussufer; eine Veranda, die Zugang zu einem Innenhof bietet, dessen Wände mit bunten Gemälden bedeckt sind; eine kleine Bibliothek, in der man allerlei Bücher auf Litauisch, Weißrussisch und Jiddisch finden kann; eine kleine polnisch-katholische Kirche mit Gebetbüchern in weißrussischer Sprache... Užupis ist auf jeden Fall reich an Kunst und Kultur, ein Ort der Erinnerung und Spiritualität, an dem nichtsdestotrotz moderne Cafés und Geschäfte entstehen können.

Während meines fünftägigen Aufenthaltes in Vilnius besuche ich Užupis jeden Tag, bei Sonnenschein wie bei Regenwetter. Immer wieder bemerke ich neue Details. Eines Abends wage ich mich bis zu einem ehemaligen jüdischen Friedhof, dem Senosios Žydų Kapinės, der sich am Ende der Krivių Gatvė jenseits des Zentrums von Užupis befindet. Nur ein paar Stelen mit Inschriften in Jiddisch zeugen von der jüdischen Vergangenheit des Stadtteils und von Vilnius. Die Werte von Užupis müssen umso stärker vor dem Hintergrund der entsetzlichen Verbrechen des Holocaust eingefordert werden.

Die Republik Užupis gehört zu den vielen Kuriositäten der litauischen Hauptstadt, einer Stadt, die mit ihren barocken Kirchen, ihrer pastellfarbenen Innenstadt, ihrem großfürstlichen Schloss und ihren vielen Grünflächen unbedingt einen Abstecher wert ist.

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