Rückgabe gestohlener Kunstwerke: was passiert, wenn wir die europäische Kulturpolitik neu definieren würden?

, von  Clara Dassonville, Eurosorbonne, Translated by Giulia Querini, übersetzt von Leonie Charlotte Wagner

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Rückgabe gestohlener Kunstwerke: was passiert, wenn wir die europäische Kulturpolitik neu definieren würden?
Marmor-Relief vom Nordfries des Parthenon im British Museum in London. Bildquelle: Flickr / Egisto Sani / CC BY-NC-SA 2.0

Seit Jahrzehnten fordern Staaten die Rückgabe gestohlener Kunstwerke: Griechenland und Nigeria stellen Forderungen an das British Museum, Ägypten an das Louvre, Benin an das Quai Branly.... Die Leihgabe von Kunstwerken ist kein neues Phänomen. Teils waren es sogar Leihgaben, die einige Werke zu weltweiter Bekanntheit verhalfen. Aber was ist in einem so zweifelhaften Kontext mit gestohlenen oder erworbenen Werken zu tun?

Im Jahr 2018 legte der von Emmanuel Macron in Auftrag gegebene Bericht Sarr-Savoye den Rahmen für die Rückgabe von Kulturgütern an die ehemals von Frankreich kolonisierten afrikanischen Länder fest. Dennoch gibt es immer noch viele Debatten und Kontroversen um folgende Fragen: Ist Kulturerbe national oder universell? Sind Kunstwerke vielmehr als nur kulturelle, auch politische Werke? Haben wir jetzt die Gelegenheit, die europäische Geschichte mithilfe von Kultur und Austausch neu zu definieren?

Rückgabe und Restitution? Die Grenzen des Rechtsrahmens

Worte fallen ins Gewicht: Sollten Kunstwerke an die betreffenden Länder zurückgegeben, restituiert oder an die entsprechenden Länder repatriiert werden? Für die UNESCO umfasst Rückgabe „Kulturgut, das durch koloniale oder ausländische Besetzung verloren gegangen ist“, d.h. Eigentum, das nach dem Diebstahl durch einen Staat in sein Herkunftsland zurückkehrt. Restitution hingegen betrifft Kulturgüter, die durch illegale Aneignung verschwunden sind; dies umfasst auch Werke, die nach dem Diebstahl in ihren Herkunftsländern geblieben sind.

Der Fall des Porträts von Adele Bloch-Bauer I ist emblematisch für ein Beispiel kultureller Restitution. Das 1907 von Klimt gemalte Werk, wurde während des Zweiten Weltkriegs von der Nazi-Regierung gestohlen. Im Jahr 2006 wurde es nach einem langen Rechtsstreit an die Nichte des Bildbesitzers zurückgegeben - und dann für 135 Millionen Dollar an einen New Yorker Milliardär verkauft. Dies ist ein Beispiel einer Restitution an eine Privatperson. Ist Vorgehen für Staaten auch so einfach?

Der Begriff der Restitution ist sehr umstritten. Seit die UN-Generalversammlung im Jahr 1973 das erste Mal von der Restitution Gebrauch machte, haben Museen und Besitzer*innen erworbener Werke dies nur unzureichend akzeptiert. Warum? Restitution erinnert an peinliche Kolonialzeiten, welche die kolonisierenden Länder selbst nicht verurteilen wollten. Für Museumskurator*innen würde die Annahme dieses Begriffs zudem bedeuten, dass die Büchse der Pandora geöffnet wäre und die Sammlungen ihrer Museen entleert würden. So dürfen für den Präsidenten des Quai Branly Museums Stéphane Martin Museen nicht „als Geisel der schmerzhaften Geschichte des Kolonialismus gehalten werden“. Dennoch sind 70.000 afrikanische Werke im Quai Branly Museum ausgestellt. Insgesamt liegen mehr als 90% der großen Werke Subsahara-Afrikas außerhalb des Kontinents.

Schließlich ist es die UNESCO, die die Führung übernimmt und erstmals bekräftigt, dass Kulturgüter aufgrund ihrer Einzigartigkeit Rechtsnormen unterliegen müssen. Es wird ein „Zwischenstaatlicher Ausschuss zur Förderung der Rückgabe von Kulturgut in seine Herkunftsländer oder seiner Restitution im Falle illegaler Aneignung“ eingesetzt, dem 24 gewählte Mitgliedstaaten wie Benin, Ungarn, Ägypten und Mali angehören. Der ehemalige Generaldirektor der UNESCO, Amadou-Mahtar M’Bow, arbeitet daran, "zumindest die repräsentativsten Schätze ihrer Kultur, diejenigen, denen sie die größte Bedeutung beimessen, diejenigen, deren Abwesenheit die psychologisch unerträglichste ist“ restituiert zu bekommen. Die UNESCO definiert die drei wesentlichen Richtlinien im Zusammenhang mit Kulturgut wie folgt: Schutz und Sicherheit der in das Herkunftsland zurückgegebenen Werke, Bereitstellung von Kulturgütern und Übertragung von Objekten.

Das Kulturerbe ist daher zwar sicherlich eine unscharfe Realität, sie stützt sich jedoch auf spezifische Gesetze und geografische Gebiete. In welchem Umfang wird etwas als Erbe wahrgenommen? Je nach betroffenem Gebiet ändert sich unser Blick auf das Erbe. Wie aber soll man mit dem Fall von gestohlenen Kunstwerken umgehen? Wie steht es um die europäische Zusammenarbeit? Und wie um die Beziehungen zwischen Europa und der übrigen Welt?

Die Werke des griechischen Parthenons im Britischen Museum: ein gemeinsames europäisches Erbe?

Das Beispiel der im British Museum ausgestellten Parthenon-Marmorfrise ist ein Musterfall: ein Beispiel für den Kampf um die Rückgabe von Kunstwerken, bei dem kulturelle Argumente mit politischen Argumenten von Staaten vermischt werden. Zunächst sollte man zum Ursprung des Streits zurückkehren. Im 5. Jahrhundert v. Chr. war Athen die mächtigste Stadt der alten westlichen Welt. Der heilige Hügel der Akropolis dominiert die Stadt, wo der Parthenon steht – ein architektonisches Meisterwerk der griechischen Kultur. Das Parthenon, aus dem Griechischen παρθενος (parthenos), was „junges Mädchen“ bedeutet, wurde von Perikles errichtet. Dieser Fries spiegelt den Reichtum Athens wider und zielt darauf ab, die Bürger*innen zu einem gemeinsamen Fest zu vereinen: Es ist ein Fries, das den Reichtum des griechischen Erbes feiert, das oft als Grundlage der westlichen Zivilisation angesehen wird und ein wertvolles Zeugnis für Historiker*innen darstellt.

Anfang des 19. Jahrhunderts erhielt Lord Elgin, britischer Botschafter in Konstantinopel (Griechenland stand damals unter der Kontrolle des Osmanischen Reiches) vom Großwesir ein königliches Dekret, das ihn ermächtigte, Skizzen und Formen des Parthenons und seiner Friese herzustellen. Er überschritt diese Genehmigung und entnahm dem Gebäude seine schönsten Marmorfrisen: Insgesamt ließ er mehr als 200 Kisten Marmor entfernen, sodass das Gebäude dauerhaft beschädigt wurde. 1916 verabschiedete das britische Parlament ein Gesetz, welches veranlasste, dass die Marmorfrisen auf unbestimmte Zeit dem British Museum gehören sollten. Schließlich befinden sich von den 97 Friesplatten 56 in England, im Vergleich dazu befinden sich nur 40 in Griechenland.

Die Forderung nach der Restitution von Marmorfrisen ist alt: Sie entstand nach der Unabhängigkeit Griechenlands im Jahr 1832. 1983 bekräftigte Griechenland, das gerade der Europäischen Union beigetreten war, seinen Wunsch, dass die Marmore durch einen Antrag der Kulturministerin Melina Mercouri zurückkehrten. Warum ist diesem Antrag noch nicht stattgegeben worden? Der lange juristische Kampf um die Rückgabe der Marmore ist ein aufschlussreiches Symptom für Konflikte um das kulturelle Erbe: Ist es national, europäisch oder universell? Und wer wird darüber entscheiden?

Bis dahin lehnte die britische Regierung die Anträge ab. Sie führt zwei Argumente an: Obwohl Lord Elgin seine Rechte überschritten hat, behauptet England, dass die Übernahme legal durchgeführt wurde. Darüber hinaus befolgt England durch die Erhaltung der Frisen das Prinzip der Universalität für Kunstwerke der UNESCO. Die anderen großen westlichen Museen schließen sich dem British Museum an, aus Angst, dass ihre Sammlungen ebenfalls am Pranger stehen und die Museen verlassen müssen. Ist das Argument, dass England das einzige Land sei, das die Friese erhalten könne, gültig?

Im 21. Jahrhundert nahm die Debatte eine neue Wendung: 2009 wurde das neue Akropolis-Museum eröffnet, 300 Meter unterhalb des Parthenon-Plateaus. Damit sind die britischen Konservierungsargumente nicht mehr gültig, da das Museum die notwendigen Bedingungen für Schutz, Erhaltung und Sicherheit bietet. Im Museum ist das Fehlen der Marmorfrisen offensichtlich: Neben den Originalen springen Gipsreplikate mit dem Stempel „British Museum“ den Betrachter*innen ins Auge. Heute beteiligt sich ein neuer Akteur an der Debatte über die kulturelle Restitution: die öffentliche Meinung. Dank des Wirkens von Persönlichkeiten wie Nikos Aliagas oder der Mobilisierung von Bürger*innen in Petitionen wird die Rückgabe der Marmore sowohl von den Griech*innen als auch von den Brit*innen zunehmend gewünscht.

Die Rückgabe griechischer Marmore umfasst somit nicht nur ein archäologisches und historisches, sondern auch ein kulturelles und politisches Problem. Schließlich stellt sich die Frage auf europäischer Ebene: Die Rückgabe würde es ermöglichen, die Idee eines europäischen Kulturerbes hervorzuheben und gleichzeitig ein Zeichen für den Zusammenhalt und die Einheit der europäischen Länder in der Identität und politischen Krise zu setzen, die Europa heute durchlebt.

Die Rückgabe afrikanischer Werke: Welche Kulturpolitik sollte Europa angesichts seiner Vergangenheit umsetzen?

Im November 2017 besuchte Emmanuel Macron die Universität Ouagadougou in Burkina Faso, wo er eine symbolische Rede hielt, die einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen Afrika und Frankreich markierte: „Heute sind wir Waisenkinder einer gemeinsamen Vorstellung: Das afrikanische Erbe kann kein Gefangener europäischer Museen sein.“Die Strategie des französischen Präsidenten ist klar: eine neue Darstellung der französisch-afrikanischen Beziehungen durch symbolische Gesten und starke Aktionen zu etablieren. Was wäre, wenn Kultur eine Möglichkeit sein könnte, um Erinnerungen zu versöhnen?

„Der Geist eines Volkes findet eine seiner edelsten Inkarnationen im kulturellen Erbe, das im Laufe der Jahrhunderte von seinen Architekten, Bildhauern und Malern geschaffen wurde [...]. Die Opfer dieser mitunter profanen Plünderung wurden nicht nur unersetzlichen Meisterwerken beraubt: Sie wurden einer Erinnerung beraubt, die ihnen zweifellos geholfen hätte, sich selbst besser kennenzulernen, sich sicherlich besser bei anderen zu verständlich zu machen [...]. Diese Kulturgüter, die zu ihrem Sein gehören - Männer und Frauen dieser Länder haben das Recht, sie wiederzuerlangen." Amadou-Mahtar M’Bow, Generalsekretär der UNESCO, 1978.

Kultur ist ein grundlegendes Thema: für den afrikanischen Kontinent, wie auch für die ganze Welt. Denn hinter diesem Erbe stehen Fragen der Identität, der Entwicklung und des Tourismus. Nach Ansicht einiger Expert*innen liegen 85 bis 90% des afrikanischen Erbes außerhalb des Kontinents: Wie kann man so Identität aufbauen? Nicolas Sarkozys Aussage, dass „der Afrikaner es nicht in die Geschichte geschafft hat“, offenbart diese Ungleichheiten beim Zugang zu Kultur und Selbstbildung.

Der Sarr-Savoy-Bericht, der im November 2018 von Emmanuel Macron in Auftrag gegeben wurde, markiert einen Wendepunkt in der Art und Weise, wie die Länder ihre kulturelle und internationale Politik gestalten. Dem Bericht zufolge wäre die Restitution, eine Re-instituierung des rechtmäßigen Eigentümers des Kulturguts; dies erfordert nicht nur ein neues Gleichgewicht, sondern auch Gerechtigkeit und Wiedergutmachung. Der Bericht ebnet den Weg für neue kulturelle Beziehungen im Rahmen einer Ethik des Umdenkens. „Restituieren bedeutet, eine symbolische Wiedergutmachung für das, was verschlechtert wurde anzubieten, eine zukünftige Beziehung auf einer gemeinsamen Geschichte aufzubauen„, so Savoy. Sie fügt hinzu:“Es geht nicht darum, französische Museen zu leeren, um afrikanische Museen zu füllen", die Autor*innen dieses Berichts möchten uns daran erinnern, dass die Jugendlichen dieser Länder keinen Zugang zu einem Teil ihrer Erinnerung haben. Die Entscheidung des französischen Präsidenten, 26 in Benin gestohlene und im Quai Branly ausgestellte Werke zurückzugeben, darunter königliche Statuen, Throne und Gegenstände, die Ende des 19. Jahrhunderts als Kriegsbeute genommen wurden, ist eine historische Entscheidung, die internationale Auswirkungen hatte. Trotz der Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Maßnahmen markiert dieser Bericht einen Paradigmenwechsel: die Möglichkeit für die betroffenen Staaten, den Trend in der Kulturpolitik umzukehren, was auch das Kräfteverhältnis zwischen den Staaten verändern würde.

Schließlich ist das kulturelle Erbe ein Begriff, der sowohl die nationale als auch die universelle Identität, den kulturellen und den politischen Bereich überschreitet. Von den gestohlenen Marmoren des Parthenons bis hin zu den afrikanischen Werken im Quai Branly stellen diese Werke unsere Beziehung zur Geschichte und Kultur der Völker in Frage. Wenn Europa in diesem Kampf eine beispielhafte Rolle übernehmen würde, wäre dies eine Gelegenheit, eine neue europäische Kulturpolitik zu schaffen, die auf Austausch und Ethik und nicht auf der Last vergangenen Leidens basiert.

Dieser Artikel wurde ursprünglich im Französischen von Eurosorbonne veröffentlicht. Die Autorin dankt Pavlo Stergard und Cécile Bialot für ihre Hilfe.

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