Über 6,3 Millionen Tote sind nur eine von vielen gravierenden Konsequenzen der letzten zwei Jahre – auch Vertiefung der Ungleichheit, politische Versäumnisse sowie soziale Folgen werden uns weiterhin nachspüren. Und obwohl die Infektionszahlen in Deutschland im grellroten Bereich liegen und das RKI weiterhin steigende Inzidenzwerte meldet, scheint ein Ende in Sicht. In Österreich wurde die Maskenpflicht gelockert, der französische Präsident Emmanuel Macron kündigte bis zum 14. März ein Ende der Masken- und Impfpassplicht in den meisten öffentlichen Bereichen an und auch in Deutschland wird ein Ende der Alltagsbeschränkungen in Aussicht gestellt.
Diese politisch motivierten Maßnahmen erfordern ein Überarbeiten und Reflektieren der Dynamiken in den letzten zwei Jahren. Auch aus diesem Grund fand letzte Woche ein Bürgerdialog zu dem Thema, „Die EU und Corona – Besser zusammen oder jeder für sich?“ statt. Die geladenen Gäste:
- Dr. Andrea Ammon, Direktorin des European Center for Disease Prevention and Control (ECDC)
- Jun.-Prof. Dr. Stefanie Börner, Juniorprofessorin für die Soziologie europäischer Gesellschaften an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
- Andreas Glück, Mitglied des Ausschusses für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit im Europäischen Parlament
– blicken gemeinsam mit Bürger*innen zurück auf die letzten zwei Jahre, die Entwicklungen während der Pandemie und zukünftige Perspektiven für die Europäische Gemeinschaft.
Von Selbstsucht zu Solidarität – die Anfänge der Pandemie
Die EU, aber auch der Rest der Welt, waren politisch, gesundheitstechnisch und strukturell unvorbereitet auf eine Pandemie. Die Krise war Neuland für Staatsoberhäupter, politische Entscheidungsträger*innen und Bürger*innen. Europäische Politiker*innen waren schnell den Verlockungen des Nationalismus erlegen - und haben, durch die Schließung der nationalen Grenzen innerhalb der EU, die Situation oft verschlimmert. Während sich also das Verhalten der Mitgliedstaaten zu Beginn durch Egoismus auszeichnete, wurde schnell klar: Nur durch einen gemeinsamen Kampf kann sich der Pandemie erfolgreich entgegengestellt werden.
Jedoch zeigten sich trotz der mehr oder weniger solidarischen Zusammenarbeit schnell Lücken in der rechtlichen Struktur der EU. Die beschränkten Kompetenzen der europäischen Institutionen im gesundheitlichen Bereich erschwerten ein durchgreifendes Handeln auf der supranationalen Ebene. Auch, dass sich die Staaten nie in der gleichen epidemischen Lage befanden, machte es nicht leichter, gemeinsam an einem Strang zu ziehen analysiert Dr. Ammon. Ein fundamentales Problem sei nach wie vor, so sind sich Dr. Ammon und Glück einig, der Datenbezug aus den verschiedenen Gesundheitssystemen. So sei es für das European Center for Disease Prevention and Control schwer, rote, gelbe oder grüne Karten für die epidemiologische Lage in der EU zu erstellen. Es werden, so Dr. Ammon, einschneidende Maßnahmen für das Leben aller Bürger*innen getroffen, die aber aus wissenschaftlicher und epidemiologischer Sicht weitestgehend nicht angebracht seien. Eine der Lektionen aus diesem Manko sollte eine Vereinheitlichung der medizinschen Datenerhebung auf europäischer Ebene sein.
Doch trotzdem: die EU hat auch Erfolge zu verzeichnen. Jun.-Prof. Dr. Börner bewertet den Wiederaufbaufonds als Maßnahme, durch welche die EU ihre Stärke gezeigt und langfristig Integrationspolitik vorangebracht hätte. Des Weiteren beschreibt sie die Einigung auf eine Schuldenunion als Erfolg, die in die Geschichtsbücher eingehen werde. Das Paket aus 750 Milliarden Euro, welches im Sommer 2020 verabschiedet wurde, sieht zum ersten Mal in der Geschichte der Währungsunion eine Schuldenaufnahme von Seiten der EU. Der Europaabgeordnete Glück erklärt zusätzlich, dass obwohl die Impfstoffbeschaffung nicht perfekt gewesen sei, die Entscheidung als solidarisch gewertet werden sollte. Dr. Ammon fügt dem hinzu, dass kleinere Mitgliedstaaten schwere Probleme gehabt hätten zur gleichen Zeit mit dem Impfen zu beginnen wie größere, ökonomische gewichtige. Dass eben diese großen Mitgliedstaaten zurückgesteckt haben, sei ein bemerkenswertes Zeichen von europäischer Solidarität.
Andreas Glück, Mitglied des Ausschusses für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit im Europäischen Parlament über anfängliche Schwierigkeiten. Foto: EUD Bürgerdialoge
Interessant für den Bürgerdialog war zusätzlich, dass sich das Vertrauen in die EU während der letzten zwei Jahren verstärkt habe, während das in die nationalen Regierungen abgenommen habe. Dies ist eine von mehreren Folgen der schlechten Kommunikation einzelner Staaten. Die drei Teilnehmer*innen sind sich einig, dass in Deutschland die Debatte um das Vakzin des Britisch-Schwedischen Produzenten AstraZeneca zu starkem Misstrauen in die Impfung geführt habe. Das sei kein europäischer Fehler, sondern ein nationales Kommunikationsproblem mit schwerwiegenden Konsequenzen für die Impfquote sowie die Impfdebatte in Deutschland gewesen.
Impfpflicht, Beratungspflicht oder keine Pflicht?
Glück sieht eine klare Folgewirkung des Kommunikationsproblems in Deutschland, das stark zu der Impfkritik sowie der verlangsamten Impfquote beigetragen habe. Zu Beginn der Kampagne war es das Ziel der Bundesregierung, 80% der Bevölkerung bis Januar dieses Jahres mindestens zum ersten Mal geimpft zu haben. Da das Impfangebot von vielen Bürger*innen nur zögerlich oder gar nicht wahrgenommen wurde, war schnell klar: das Ziel kann nicht erreicht werden. Dazu trug auch das verlangsamte Impfgeschehen bei. Überdies wurde die Debatte um die allgemeine Impfpflicht immer präsenter. Dieser Debatte unterliege ein „Fake News“-Problem, analysiert Glück. „Es gab teilweise gezielte Desinformationskampagnen“ kritisiert er, welche beispielsweise dazu führten, dass Menschen mit dem BioNTech-Vakzin geimpft werden wollten, nicht jedoch mit der von Moderna entwickelten Impfung. Auch sei es schwer ein Gesetz zur Impfpflicht einzuführen, wenn diese nicht kontrolliert werden könne. Eine Beratungspflicht sei auch nicht umzusetzen, da die Kapazitäten nicht existieren.
Eine der zentralen Frage dieser Zeit bleibt also: Warum lassen sich viele Menschen nicht impfen? Jun.-Prof. Dr. Börner beschreibt diese Situation als emotional stressig für alle Beteiligten. Das Gemeinschaftsprojekt COSMO — COVID-19 Snapshot Monitoring der Universität Erfurt, dem Robert Koch Instituts sowie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung kam zu dem Ergebnis, dass die noch ungeimpften Personen extrem kritisch der Politik gegenüberstehen. Demnach sei unter den Ungeimpften das Misstrauen gegenüber politischen Institutionen besonders ausgeprägt. Aufgrund dessen glaubt Jun.-Prof. Dr. Börner, dass eine Pflicht – ob Impf- oder Beratungspflicht – nichts bringen würde.
Lektionen für die Zukunft
Was also können wir lernen aus den Fehlern, den Folgen und den Erfolgen dieser Pandemie? Jun.-Prof. Dr. Börner nennt die Radikalisierung kleinerer Gruppen von Corona-Leugner*innen und Impfgegner*innen, welcher europaweit entgegengewirkt werden muss und wird. Denen, die sich abgehängt fühlen, sollten durch eine erneuerte Sozialpolitik Gegenangebote gemacht werden. Jun.-Prof. Dr. Börner nennt als Beispiel die momentan laufenden Transformationsprozesse auf EU-Ebene wie den sogenannten Green New Deal. Dieser würde zum Beispiel eine soziale und nachhaltige Umweltpolitik beinhalten, um “die Zerfaserung an den Rändern“ der Gesellschaft aufzuhalten. Das Vertrauen zwischen politischen Institutionen in die Mitgliedstaaten und den jeweiligen Bürger*innen müsse wieder aufgebaut werden. Für Jun.-Prof. Dr. Börner gehört dazu auch eine Aufarbeitung der Fehler, die gemacht worden sind. Ein genanntes Beispiel ist der kriminalisierende Ton in Briefen von dem deutschen Gesundheitsamt an Bürger*innen, die an einer Covid-19 Infektion erkrankt sind. Überdies betont Dr. Ammon, dass speziell Kinder und Jugendliche, aber auch „eine ganze Reihe von Personen […] hintenangestellt“ wurden. Auch darauf muss sich die Politik fokussieren, um die Auswirkungen so gering wie möglich zu halten, Bildungslücken zu füllen und das Verpasste so gut und schnell wie möglich nachzuholen.
Niemand kann wirklich vorhersagen, wie das Leben „nach der Pandemie aussehen“ wird. Es solle keine Einschränkungen mehr geben, wenn diese aber nötig sind, so sollten sie so wenig einschneidend wie möglich sein, versichert Glück. Die Pandemie ist noch nicht zu Ende und auch der Solidaritätsgedanke innerhalb der EU, so Dr. Ammon, sei noch immer untermalt von eigennütziger Motivation.
Dr. Andrea Ammon, Direktorin des ECDC über Solidarität während der Pandemie. Foto: EUD Bürgerdialoge
Und trotzdem: Im Binnenmarkt sind die Mitgliedstaaten zusammengerückt. Die Antwort der Europäischen Kommission auf Konflikte, die es schon vor 2020 gab, wie zum Beispiel die Rechtsstaatlichkeitsfrage in Polen und Ungarn, ist konsequenter. Möglich gemacht wurde diese gezielte Antwort durch den europäischen Wiederaufbaufonds – ein Meilenstein in der europäischen Geschichte. Stichworte, welche die EU und Corona in dem ersten Online-Bürgerdialog der Europa-Union Deutschland e.V. dieses Jahres verbinden, sind u.a. Lernbereitschaft, Solidarität, Miteinander und Zusammenhalt. Was also die bisherigen zwei Jahre Covid-19 Pandemie mit Sicherheit gezeigt haben: Die EU ist besser zusammen - vergessen wir also: „jeder für sich“.
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