Alle kennen Amnesty International. In der Europäischen Union ist diese Organisation für viele ein Synonym von Freiheit.
Aber am 30. Mai 2018 war dies in Nizza nicht der Fall. Es wurde ein Urteil über die 60-jährige Amnesty International Aktivistin Martine Landry gefällt. Warum? Weil sie angeklagt war, jungen Migranten aus Guinea bei der Einreise nach Frankreich geholfen zu haben. Dieser Prozess hat das sogenannte französische „Délit de solidarité“ (übersetzt: Solidaritätsverbrechen) in Frage gestellt. Die Affäre erinnert uns sehr an den Prozess gegen Cyril Herrou, eine wahre Identifikationsfigur der Migrantenhilfe in Frankreich, der nämlich ein Jahr vorher zu vier Monaten Gefängnis auf Bewährung für das illegale Einschleusen von 200 Migranten verurteilt wurde. Herrou war von einigen als „Whistleblower“ betrachtet worden. Diese Affären haben die Debatte über die private Migrantenhilfe wieder näher ins Licht gerückt.
Sehen wir uns zunächst einmal an, was das Solidaritätsverbrechen ist:
Die erste Form dieses Paradoxons des französischen Gesetzes wurde nämlich 1938 mit der Verordnung der Daladiers Regierung eingesetzt, und das in einem sehr fremdenfeindlichen Kontext. In dem „CESDA“ (Codex für die Einreise und den Aufenthalt von Migranten und Asylrecht), bestehend seit 1945, existiert das „Solidaritätsverbrechen“ noch, auch wenn es nicht mehr so genannt wird. Gemäß dem „Artikel L-622-1 der CESDA“ ist die Eintrittshilfe und illegale Aufenthaltshilfe für Migranten auf französischem Boden ohne die Unterstützung einer Behörde illegal. Bei Missachtung drohen bis zu 30.000 € Geldbuße und 5 Jahre Gefängnis. Es war das ursprüngliche Ziel dieses Gesetzes gegen den Menschenhandel und illegale Schmuggler vorzugehen, jedoch hat es wegen seiner Härte nicht nur für Gutes gesorgt.
Seit 20 Jahren wurden dank öffentlicher Proteste Ausnahmen eingeführt, die die Fälle, in denen man das „Solidaritätsverbrechen“ einsetzten kann, begrenzen. Man kann zum Beispiel die familiäre Immunität erwähnen: Es ist erlaubt, einem Familienmitglied zu helfen - dank der Tourbon- und Chevènement-Gesetze von 1996. Seit 2003 ist Hilfe theoretisch auch im Falle einer Gefahr legal, und seit 2012 wird zwischen Freiwilligen und Schleusern unterschieden.
Wie ist die aktuelle Lage?
Heute hat dieses Gesetz seine ganze humanistische Inspiration verloren und wird wegen seiner Absurdität immer mehr kritisiert. Wie kann Solidarität in der aktuellen Lage, in der tausende Männer, Frauen und Kinder auf der Flucht übers Mittelmeer ihr Leben verlieren, ein Verbrechen bleiben? Und das gerade in Frankreich, dem siebtreichsten Land der Welt und überdies dem Land der Menschenrechte. Das „Solidaritätsverbrechen“ schadet den Werten und dem Motto Frankreichs „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Wie kann solch eine verfassungswidrige Maßnahme heute noch angewandt werden? Diese Ansicht wird von vielen NGOs und Vereinen vertreten. Ein Beispiel ist Amnesty International, die Organisation hat mehrere Interventionskampagnen ins Leben gerufen. Mails, Petitionen, Mobilisierung und Nichteinhaltung der Gesetze sind für Amnesty International eine „Kampfroutine“.
Aber dieser Blickwinkel wird nicht von allen geteilt.
Im April 2018 haben 100 Aktivisten der fremdenfeindlichen und rechtsextremen Gruppe „Generation Identaire“ (identitäre Generation) eine Grenzstraße blockiert, die oft von Migranten in den Alpen genutzt wird. Diese illegale Aktion wurde von Politikern von allen Seiten streng verurteilt. All diese Ereignisse zeigen uns, dass sich nicht alle für eine Lockerung des Gesetzes aussprechen. Die angesprochenen Gründe? „Franzosen zuerst“, „Wir können uns nicht um das ganze Elend der Welt kümmern“ oder „Die sind aber nicht wie wir: Integration ist unmöglich“. Das hören wir oft, zu oft, aus den Mündern der Rechtspopulisten. Und was noch nerviger ist, ist dass all diese Straßenecken-Slogans unbegründet sind. Die Möglichkeit zu helfen hat die EU auf jeden Fall.
Jede Krise hat einen „Abschluss“.
April 2018: Im gespannten Kontext der Asyl- und Immigrationsgesetzdebatten, bei denen viele Politiker der Mehrheit („La République en Marche“) und der Sozialisten und Kommunisten Reform- und Lockerungsbedarf sehen, haben sich die Konservativen („Rassemblement National“ (Ex-Front National) und „Les Républicains“) gegen eine Lockerung des „Solidaritätsverbrechen“ entschieden. Trotzdem hat die Mehrheit dieses Mal gewonnen und dank des Änderungsantrags, der von der Abgeordneten Naïma Moutchou („La République en Marche“) vorgeschlagen wurde, findet man neue Ausnahmefälle im Artikel L – 622-1. Dieser zielt auf den Schutz der Würde und der physischen Integrität hin. Nunmehr ist es erlaubt, einen Migranten vorzuschlagen und zu begleiten, oder Pflege und Essen zu liefern, solange es gemeinnützig bleibt. Der Innenminister Gérard Collomb hat erklärt, dass es sich um eine präzisere Definition des Delikts handelte. Die Eintrittshilfe bleibt trotzdem illegal, und das ohne Ausnahmen.
Neulich (im Juli 2018) wurde das „Prinzip des Solidaritätsdelikts“ vom „Conseil Constitutionnel (CC)“ (Verfassungsrat: Entscheidung der Verfassungsfähigkeit von Gesetzen, Präsidentschafts- und Parlamentswahlen sowie von Referenden der französischen Republik) abgeschafft. Dieser hat nämlich verfügt, dass eine selbstlose Hilfe zum legalen Aufenthalt nicht unter Strafe stehen darf, gemäß den grundlegenden Werten der Brüderlichkeit der französischen Republik. Deshalb sollte der erste Artikel des „CESDA“s bis Dezember verändert werden, auch wenn jede Hilfe bei der Einschleusung illegal bleibt.
Warum gibt es kein gemeinsames europäisches Gesetz?
Die Europäische Union muss hier eingreifen. Die gegenseitige Hilfe der Länder untereinander ist die Grundlage der EU. Kooperation muss in diesem Kontext das Motto bleiben.
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