Souveränismus verstehen, um in Europa ein neues Kapitel aufzuschlagen

, von  Simone Fissolo, übersetzt von Noëlle Cremer

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Souveränismus verstehen, um in Europa ein neues Kapitel aufzuschlagen

Den Souveränismus verstehen, um mit den im Frühling angesetzten Europawahlen ein neues Kapitel in Europa aufzuschlagen. Das ist das Ziel für die kommenden Monate. Wir sollten daher die Themen wie Migration, die mit Schwierigkeiten verbundene Verteilung von Migranten in der Europäischen Union und den Umgang mit den Menschen auf dem Schiff „Diciotti“ beiseitelassen und uns stattdessen darauf konzentrieren, was heute jedem von uns passiert, ohne Ausnahme. Steckt eure Hände in eure Hosentaschen, sucht in euren Taschen, schaut unter dem Bett, vielleicht auch unter dem Kissen oder auf dem Tisch neben der Kaffeetasse: die neue Technologie ist dabei, unser Leben zu verändern. Wir sind in der dritten industriellen Revolution angekommen und die Politik hat es nicht einmal mitbekommen.

Die Ökonomen sind, wie so oft in den letzten Jahren, die Ersten die uns erklären, dass sich etwas verändert. Rifkin, Autor des Buches „The Third Industrial Revolution“ sowie Berater der Kanzlerin Merkel, des Präsidenten Juncker und des Premier Li, erläuterte dies kürzlich genauer in einem Interview in der strategy+business, einer Zeitschrift des PricewaterhouseCoopers Netzwerks, einer der angesehensten Unternehmen für prüfungsnahe Dienstleistungen. Im Interview behauptet Rifkin, dass sich der Kapitalismus mitten im Wandel befinde. Um näher an seinen Worten zu bleiben, können wir hier von einer wahren industriellen Revolution sprechen. Im Zentrum dieser Revolution sind natürlich die technologischen Veränderungen. Rifkin zufolge wird das was uns zurzeit passiert unsere Lebensstile komplett durcheinanderbringen und eine Zeit des Überflusses einleiten. Dieser Wandel wird noch etwa die nächsten 30-40 Jahre benötigen, uns aber in eine bessere Zukunft führen.

Die Politik ist gerufen, sich eine Meinung zu bilden, jetzt und sofort. Die Progressisten haben nur den Fortschritt auf ihrer Seite, und diese Karte müssen sie gegen die Front von NOTTIP, NOCETA, NOVAX, NOTAV und NOEURO spielen. Die europäischen Politiker werden bald bei der Hälfte ihrer regulatorischen Aktivitäten damit beschäftigt sein, den oben erwähnten Wandel zu lenken und genau das zu regulieren, was wir in unseren Hosentaschen, Taschen, unterm Kissen und auf dem Tischen finden, nämlich zum Beispiel das Internet der Dinge, die Blockchain und die Sharing Economy. Diese drei kleinen Revolutionen sind schon über Apps auf unseren Smartphones verfügbar. Also erleben wir momentan weniger eine Migrationskrise, als eher die größte Unterschätzung der Effekte einer der vielen technischen Revolutionen seit der Geburt des Menschen bis heute.

Die Souveränismus ist die politische Antwort auf so viel Unsicherheit. Die Souveränismus setzt dem technischen Fortschritt, der sich mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegt und keine definitive Form annimmt, eine vertraute Vergangenheit entgegen. Die Souveränismus ist ebenso nutzlos wie schädlich, wenn er zu einem Misstrauen in die Technik führt.

Der letzte Wahlkampf in Slowenien zeigt, warum die Progressisten beim Thema Immigration nicht gewinnen können. Die Immigration ist für die Slowenen kein reales, sondern ein nur wahrgenommenes Problem. Der Journalist Zancan hat in einer Reportage für die Zeitung La Stampa im letzten Juni daran erinnert, dass im Jahr 2015 ganze 308 Personen eine Aufenthaltserlaubnis in Slowenien beantragt haben. Dagegen gab es 1200 Personen, die das slowenische Territorium überquert haben, ohne sich dabei länger im Land aufhalten zu wollen. Es ist also eine richtige Welle! Diese Fakten bringen jedoch nichts. Der souveränistische Kanditat Janša, Verbündeter von Orban, hat einen Wahlkampf gegen die „Horde der Barban“ auf dem Weg nach Europa (wie von seinen Wahlplakaten suggeriert) geführt. Der Vertreter der slowenischen Demokratischen Partei hat unglaublicherweise die Mehrheit der slowenischen Stimmen erhalten. Die 308 „Barbaren“ haben gereicht und die Argumente der Befürworter der Aufnahme waren nicht genug, und werden nicht genug sein, um die Stimmen auf der linken Seite zurückzugewinnen.

Um es mit den Worten von Deaglio, einem italienischen Ökonomen, zu sagen: wir befinden uns in einer „post-globalen“ Zeit. Dabei ist die Politik jedoch nicht in der Lage, uns die nötigen Instrumente an die Hand zu geben, mit denen wir die heutigen Innovationen und Transformationen verstehen könnten. Wie steuern wir beispielsweise das Phänomen der Sharing Economy bezogen auf den Energiesektor? Mit welchen Regeln erlauben wir die Einführung von künstlicher Intelligenz in unseren Häusern? Wie revolutionieren sich die Verkehrsmittel?

Deaglio hat am ersten Juni in der Zeitung La Stampa einen Kommentar mit dem Titel „Wir sind in eine post-globale Welt eingetreten“ geschrieben. Die Hauptargumentation die seine Theorie bestätigen sollte waren die Zollpolitiken des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Aber, lieber Deaglio, auch Italien ist mit dem Ausgang der nationalen Wahlen am 4. März in die post-globale Periode eingetreten.

Die souveränen Regierungen der EU schlagen sich mit Immigranten herum, während Trump auf dem Problem der wirtschaftlichen Konkurrenz besteht und Zölle beschließt, die zu einem Scheitern der WTO führen könnten. Die letzte Drohung des amerikanischen Präsidenten, 25% Zoll auf jedes Auto zu erheben, das aus Europa in die Vereinigten Staaten eingeführt wird, fand erst am 22. August diesen Jahres statt. Deaglio schreibt: „Die Globalisierung – des Marktes – war seit langem angeschlagen und die anfängliche Begeisterung ist langsam verebbt, als klar wurde, dass sich zu den positiven Ergebnissen der aufstrebenden Länder (Anstieg der Einkommen und des Lebensstandards) negative Ergebnisse in den reicheren Ländern gestellten, wo die Mittelklassen und vor allem die untere Mittelklasse starke Einbußen bei Einkommen und Arbeitsplatzsicherheit hinnehmen mussten, während die jüngere Generation zuschaute, wie ihre Zukunftschancen beeinträchtigt wurden.“

Fabbrini, ein europäischer Politologe, erklärt in der Tageszeitung Il Sole24Ore, wie der Populismus tatsächlich mit der momentanen wirtschaftlichen Situation zusammenhängt: „Für manche war der Populismus Ausdruck der wirtschaftlichen Ängste, die in denen vom Globalisierungsprozess benachteiligten Bevölkerungsschichten hervorgerufen worden sind. Für andere war er eine Reaktion auf die von Globalisierungsprozessen hervorgerufene Hinterfragung der traditionellen kulturellen Identitäten. Für wieder andere ist er aus der Frustration gegenüber einer Globalisierung entstanden, die die nationalen Regierungen eher den internationalen Märkten verpflichtet als ihren einheimischen Wähler*innen.“

Die verschiedenen von Fabbrini genannten Beweggründe haben sicherlich zu einer Verstärkung des Populismus geführt. Dennoch versteht man den Souveränismus als Modus nationaler Politik nur, wenn man begreift, dass die Unsicherheit nichts mit der „Horde afrikanischer Barbaren“ zu tun hat. Die Angst vor der Einwanderung oder die trumpsche Angst vor der wirtschaftlichen Konkurrenz sind nicht die realen Probleme unserer Bürger*innen. Eher sind es die Themen der technischen Innovationen und der neuen Beziehung zwischen Mensch und Technik, die die neuen Grenzen der Europäischen Union darstellen. Wenn sich doch die Technik verbessert und uns der Fortschritt Richtung Überfluss bringt, warum werden unsere Leben dann nicht besser?

Mantellini, italienischer Internetexperte, vertritt in seinem letzten Buch „Geringe Auflösung“ die Meinung, dass die Italiener dabei sind, ihre Erwartungen gegenüber neuen Technologien drastisch zu reduzieren. Das ist das echte soziale Thema. Warum senken wir im Westen unsere Lebensqualität, wenn wir einer Verbesserung der Technik gegenüberstehen? Mantellini schreibt, dass vor allem die Italiener die technologischen Innovationen passiv ertragen, was negative Auswirkungen für die Gesundheit der Gesellschaft hat. Mantellini erklärt den momentanen Verlust an Lebensqualität der italienischen Gesellschaft mit der kranken Beziehung zur neuen Technologie, indem er eben das Konzept der geringen Auflösung, im Kontrast mit der hohen Auflösung, benutzt. Nach der Meinung des Autors lässt sich dieses Konzept auf fast alle Bereiche unserer Gegenwart anwenden. Von der geringen Auflösung der Bilder unserer Smartphones verglichen mit der hohen Auflösung der richtigen Fotokameras, die sich in den letzten Jahren ebenfalls verbessert haben, zur geringen Qualität der Bildschirme unserer Laptops die in vielen Häusern der neuen Generation unsere Fernseher ersetzt haben und so weiter. Ein Verlust der technischen Qualität der Dinge unseres täglichen Gebrauchs. All dies hat negative Auswirkungen auch in allen anderen kulturellen und sozialen Bereichen, wie in den Nachrichten, wo das Phänomen der Fake News oder der Berichterstattung der Zeitung La Repubblica über kleine Kätzchen ein Zeichen des Qualitätsverlust unseres alltäglichen Wissens sind. Der Qualitätsverlust ist unseren geringer werdenden Erwartungen in einer sich verändernden, aber sich technologisch immer weiter verbessernden Welt geschuldet.

Die EU ist die einzige die sich diesen Themen annehmen kann, da sie sich seit langer Zeit mit ihnen beschäftigt. Seit Jahren arbeitet sie an der digitalen Transformation, der Industrie 4.0, der nachhaltigen Energieversorgung, der Kreislaufwirtschaft und am Datenschutz. Wir dürfen nicht aus der Immigration die Schlacht des europäischen und föderalistischen Progressismus machen. Ebenso dürfen wir uns nicht hinter alten Schlachten, vom NewDeal4Europa und einer europäischen Verteidigungsunion, verstecken. Lasst uns über den Tellerrand hinausschauen, lasst uns die europäischen Exzellenzen anschauen, damit sie den rückständigen Souveränismus aufhalten. Der größte und beliebteste Erfolg der EU in den letzten Jahren? Die DSGVO. Alle Unternehmen, ob klein oder groß, mussten sich hier anpassen und Jurist*innen und Informatiker*innen bezahlen. Alle europäischen Bürger*innen haben wenigstens eine E-Mail von einem Newsletter bei dem sie angemeldet sind auf ihrem Smartphone erhalten. Die DSGVO hat uns beschützt und von der Zukunft gesprochen. Lasst und hier anfangen.

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