Spitzenkandidat*innen 2.0

Warum Spitzenkandidat*innen 2019 (vermutlich) nicht erfolgreich waren und wie sie 2024 erfolgreich werden könnten

, von  Lars Becker

Spitzenkandidat*innen 2.0
Die Suche nach dem Brüsseler Spitzenpersonal spaltet die Meinungen. Foto: Unsplash / Raphael Biscaldi / Unsplash License

Warum Spitzenkandidat*innen dieses Jahr (vermutlich) nicht erfolgreich waren

Es hätte alles so schön sein sollen. Nach dem Willen vieler Parlamentarier*innen hätte sich das Europäische Parlament mit den Spitzenkandidat*innen gegen den Europäischen Rat durchsetzen und die Entscheidung über die wichtigste EU-Personalie an sich ziehen können. Dass es nicht so kam, liegt daran, dass das Parlament sich nicht einig wurde und es sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber gab, wie das Spitzenkandidat*innensystem zu funktionieren habe.

Die zentrale Spitzenkandidat*innen-Variante, nach der eine überwiegende Zahl der Akteure der Europäischen Volkspartei (EVP), aber auch der Allianz der Sozialisten und Demokraten (S&D) verhandelte, erinnert an eine Form einer verkappten Direktwahl des*der Kommissionspräsidenten*in. Dabei sollte die größte Fraktion bzw. jene, die eine parlamentarische Mehrheit für ihre*n Spitzenkandidaten*in organisieren kann, die Kommissionspräsidentschaft stellen. Bei den letzten Europawahlen 2014 hatte das wunderbar funktioniert: Noch am Wahlabend erklärte Martin Schulz (S&D), dass die EVP die Wahlen gewonnen habe und nun die größte Fraktion im Europäischen Parlament stelle. Jean-Claude Juncker wurde daraufhin von der EVP (mit rund 29% der Parlamentssitze) und der S&D (mit rund 25%) zum Kommissionspräsidenten gewählt. Beide Fraktionen hatten zusammen über Jahrzehnte stets eine absolute Mehrheit im Parlament und dabei eine Art „informelle große Koalition” gebildet. 2019 sieht das anders aus: Aufgrund der veränderten politischen Verhältnisse, die dazu führen, dass diese beiden Parteifamilien zusammen nicht länger eine parlamentarische Mehrheit haben, ist dieses nicht länger möglich.

Ein solches Wahlergebnis war absehbar. Damit war auch absehbar, dass

  • die verschiedenen Spitzenkandidat*innen-Interpretationen von EVP und S&D zu einem Problem werden könnten, weil die neuen Mehrheiten nicht zwingend dazu führen würden, dass es trotz unterschiedlicher Interpretationen eine Schnittmenge geben würde.
  • dass an den Verhandlungen weitere Parteien beteiligt werden müssen, die deutlich divergierende Vorstellungen bezüglich des Verfahrens haben, was es noch schwieriger machen würde, sich auf eine gemeinsame Position zu verständigen.

Der zweitgenannte Punkt ist noch bedeutsamer als die Differenzen zwischen EVP und S&D - und war ebenfalls absehbar und vermeidbar. Im Frühjahr letzten Jahres stand im Europäischen Parlament eine Abstimmung über länderübergreifende Wahllisten, sogenannte transnationale Listen, an. Anders als die Idee der Spitzenkandidat*innn, die insbesondere von konservativer Seite lange vorangetrieben wurde, wurde die Idee der transnationalen Listen von liberaler Seite in die Debatte eingebracht und findet sich auch in Emanuel Macrons Wahlprogramm wieder. Schon in seiner Sorbonne-Rede 2017 hatte er angemerkt, dass ein Spitzenkandidat*innensystem für ihn nur in Kombination mit transnationalen Listen Sinn machen würde.

Diese wurden aber im letzten Jahr verhindert, insbesondere von jenen Konservativen, die sich nun nach den Wahlen massiv über das Vorgehen Macrons bezüglich Manfred Weber echauffierten. Neben inhaltlichen Bedenken spielten hierbei Machtkalküle eine starke Rolle: Während die EVP von Spitzenkandidat*innen zumindest kurz- und mittelfristig profitieren würde und dieses Instrument die Chance der Fraktion, die Kommissionspräsidentschaft stellen zu dürfen, stärken würde, hätte Macron von transnationalen Listen profitiert und dadurch vielleicht zusätzliche Sitze im Europäischen Parlament gewinnen können.

Auf konservativer Seite wurde unterschätzt, wie bedeutsam viele ein doch eher „technisches” und vergleichsweise kompliziertes Instrument wie transnationalen Listen finden. Offenbar hat wurde dort das Thema dort so sehr unterschätzt, dass man seltsamerweise nicht einmal in dezidiert föderalistischen Verbänden mit viel Verärgerung rechnete. Entgegen den Erwartungen führender konservativer Föderalisten gab es in unseren Verbänden wie JEF, EUD und UEF massive Verstimmung. Auch die fünf Chefredakteur*innen von treffpunkteuropa.de und dessen Partnermagazinen machten ihrem Ärger in einem Meinungsartikel Luft.

Auch außerhalb jener Verbände war es eigentlich nicht verwunderlich, dass sich in den meisten Fraktionen jenseits der EVP Widerstand gegen die Ablehnung von transnationalen Listen regte, da diese Idee fraktionsübergreifend breite Zustimmung findet und in zahlreichen Beschlüssen verankert wurde. Die Grüne Fraktion kommunizierte breit das Abstimmungsverhalten der Parlamentarier*innen, in der SPD wurde die Idee hochgehalten und aus allen vier großen Fraktionen äußerten sich Fürsprecher*innen. Dass die Auseinandersetzungen so massiv werden würde, war Beobachtern mit breiterer Perspektive nicht nur wegen Macrons zahlreichen Äußerungen in dieser Causa klar, sondern auch weil der damalige Fraktionsvorsitzende der ALDE-Fraktion, Guy Verhofstadt, weit vor der Wahl seine Kooperation mit der EVP in Sachen Spitzenkandidaten aufgekündigt hatte und die ALDE dazu bewegte ein Spitzenteam, mit insgesamt sieben Kandidat*innen statt einem*r Spitzenkandidaten*in, aufzustellen.

Eine Mehrheit für einen Autokratenkandidaten?

Weiter verkompliziert wurde die Lage durch den Umstand, dass die EVP mit Manfred Weber einen*r Kandidaten*in ins Rennen geschickt hat, der zwar innerhalb der eigenen Parteienfamilie großes Ansehen genießt und breit getragen wird, der aber außerhalb der EVP schwer zu vermitteln war. Nicht nur aufgrund des Verfahrens, sondern auch bezüglich der Personalie war absehbar, dass Macron nicht mitspielen würde, da er Autoritäre wie Victor Orban wiederholt zu seinen zentralen politischen Gegnern erklärt hatte. Aufmerksamen politischen Beobachter*innen muss in den letzten Jahren außerdem aufgefallen sein, dass Macron von der Persönlichkeit und seinem Führungsstil her niemand ist, der eine Konfrontation scheut, wenn er glaubt, das Richtige durchzusetzen.

Und hier kommt Manfred Weber ins Spiel, denn dieser hatte in seiner Rolle als langjähriger EVP-Fraktionschef, gemeinsam mit dem Vorsitzenden der EVP, Joseph Daul, Viktor Orban lange Zeit in Schutz genommen. Der Politikwissenschaftler Daniel Kelemen hatte deshalb schon letztes Jahr prognostiziert, dass diese Personalentscheidung dazu beitragen könnte, dass Spitzenkandidat*innensystem zu kippen. Und Kelemen hatte dafür sehr gute Argumente, die frühzeitig zeigten, dass nicht nur Macron ein Hindernis werden könnte, sondern auch das Parlament selbst. Kelemens Argument ist etwas vereinfacht folgendes: Wenn die EVP keinen Preis dafür bezahlen würde, dass sie Autokraten in ihrer Fraktion hält, dann würde dies Anreize für Fraktionen bieten, autokratische Fraktionen aufzunehmen, weil dieses dabei helfen würden, den Status als größte Fraktion zu halten. Es gäbe also keine Anreize Autokraten auszuschließen.

Aus diesem Grund war Weber nicht nur im Rat schwer vermittelbar, sondern konnte auch im Parlament keine Mehrheit finden. Für S&D, Liberale und insbesondere Grüne hätte die Botschaft, dass sie einen „Autokratenkandidaten” wählen im Gegensatz zu den Konservativen einen politischen Preis. Sie müssten über die Legislatur und bei den nächsten Wahlen mit dem Makel leben, dass sie ein Verhalten, das man eigentlich sanktionieren müsste, nicht sanktioniert haben, um stattdessen ein doch eher abstraktes Prinzip aufrechtzuerhalten.

Timmermanns und Vestager als Ausweg aus einem interinstitutionellen Konflikt?

Als Weber also nicht durchzusetzen war, entstand der Plan Timmermans zu wählen. Aber auch dieser erwies sich als schwierig durchzusetzen, weil sich – aus durchaus nachvollziehbaren Gründen – viele EVPler fragten, warum sie bei einem zweitplazierten Kandidaten überhaupt kooperieren sollten. Das Hauptproblem aber waren die Visegrádstaaten und Italien, die Timmermans ablehnten und nicht umgestimmt werden konnten. Aufgrund der Tatsache, dass Großbritannien sich enthält gab es keine Mehrheit, da mit der sogenannten verstärkten qualifizierten Mehrheit gewählt wird und bei dieser mindestens 21 Mitgliedsstaaten, die mindestens 65% der EU-Bevölkerung vertreten müssen, für einen entsprechenden Vorschlag stimmen müssen. Die Hoffnung vieler, dass diese Lage nun die Chance böte, Vestager durchzusetzen, scheint aber auch eher gering. Zum einen sprechen in der EVP viele zentrale Akteur*innen ihr den Spitzenkandidat*innenstatus ab – Günther Oettinger nannte sie den „Superfake”, da sie nur eine unter sieben Kandidaten in dem Spitzenteam der ALDE war – und zum anderen hat Macron mit seiner harten Verhandlungstaktik in der Causa Weber zahlreichen Akteur*innen einen Grund geboten, dass seine favorisierte Personalie unter den Spitzenkandidat*innen auch deshalb nicht durchsetzbar scheint.

Aus diesen Gründen wäre das Europäische Parlament vermutlich schlecht beraten es auf einen interinstitutionellen Konflikt mit dem Europäischen Rat anzulegen. Manfred Weber ist aus dem Rennen, da er seinen Anspruch zurückgezogen hat und es gibt keine plausiblen Szenarien, in denen Timmermans oder Vestager mit hoher Wahrscheinlichkeit durchzusetzen sind. Das Parlament – schon gar nicht eines, das sich uneinig ist – kann den Europäischen Rat nicht zwingen sich auf eine*n Kandidaten*in zu verständigen. Es könnte also höchstens eine Personalie, die auf europäischer Ebene ein hohes Maß an Zustimmung erfahren hat, verhindern und dafür sorgen, dass ein anderer Kandidat oder eine andere Kandidatin als von der Leyen an die Spitze rückt. Ein solches Vorgehen könnte aber zu Szenarien führen, die einen vergleichsweise hohen Preis haben.

Es könnte ein*e weniger qualifizierte*r Kandidat*in an die Spitze rücken; es könnte sein, dass Hoffnungen enttäuscht werden, dass es eine Frau sein wird. Insbesondere könnte sich dieser Konflikt sehr lange ziehen und dazu führen, dass Kandidaten durchgesetzt werden, die aufgrund der Kosten, die solche Konflikte mit sich bringen können (persönliche Verletzungen, das Bedürfnis sich revanchieren etc.), einen schweren Stand haben werden, den nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen auszuhandeln, der nicht nur wegen Verteilungsstreitigkeiten, sondern auch wegen des Versuchs ihn mit Rechtsstaatlichkeitsinstrumenten zu verbinden, ausgesprochen schwer zu verhandeln sein wird. Mit von der Leyen und den beiden Spitzenkandidat*innen Timmermans und Vestager als Vizepräsident*innen hätte die Kommission eine Führungspitze, die sich als durchsetzungsstärker als denkbare Alternativszenarien herausstellen könnte. Sollte sich das Parlament für diese Option entscheiden, so wäre dies keineswegs undemokratisch, sondern Ausdruck eines demokratischen Prozesses. In parlamentarischen Demokratien entscheiden Parlamente mit Mehrheit nach den Verfahrensregeln, die man sich zuvor gegeben hat. Auch das ist gelebte Demokratie.

Die Zukunft der Spitzenkandidat*innen

Mit diesem Szenario sind Spitzenkandidat*innen aber keineswegs tot. Im Gegenteil: Man kann Macron, Verhofstadt und anderen dankbar sein, dass ihre Haltung dazu beigetragen hat, dass reale Probleme des Spitzenkandidatenprozesses so deutlich sichtbar wurden. Doch nicht nur das: Bei der Diskussion um die Probleme des Mechanismus wurde auch der Ausweg deutlich. Wichtige Akteur*innen des Europäischen Rates, an vorderster Stelle Macron und Merkel, könnten mit einem Spitzenkandidat*innensystem auf Basis transnationaler Listen leben. Die designierte Kommissionspräsidentin, Ursula von der Leyen, hat bereits Bereitschaft für eine Wahlrechtsreform signalisiert und dem Parlament sollte aufgegangen sein, dass das Spitzenkandidat*innen­system nur dann eine Chance zu überleben hat, wenn es gelingt ein einziges System herauszubilden - und nicht eine handvoll Varianten nach jeder Wahl neu verhandelt werden muss.

Aus föderalistischer Perspektive führt dieser kurzfrisitige Rückschlag möglicherweise zu einem langfristigen Gewinn. Denn anders als Spitzenkandidat*innen ist die Einführung transnationaler Listen mit einigen Hindernissen verbunden, deren Überwinden große Geschlossenheit erfordern wird. Da sich, aller unterschiedlichen Vorstellungen zum Trotz, die Mehrheit der Parlamentarier*innen aber deutlich und lautstark auf ein Spitzenkandidatensystem festgelegt hat, gibt es an sie alle jetzt eine große Erwartungshaltung, dass sie sich verständigen, wie ein solches breit getragenes Spitzenkandidat*innensystem aussehen könnte. Für eine Zustimmung zur Personalie von der Leyen sollte das Parlament eine interinstitutionelle Vereinbarung aushandeln, die vorsieht, dass rechtzeitig zu den Wahlen 2024 ein europäisches Wahlrecht beschlossen wird, das auf Spitzenkandidat*innen und transnationale Listen fußt.

Im Detail gibt es dabei viele Fragen zu klären. Die grobe Linie ist aber klar: Es braucht transnationale Listen mit Spitzenkandidat*innen, die auf Platz 1 dieser europaweit zu wählenden Listen stehen. Zahlreiche Argumente, die Kritiker*innen dieses Mal nutzten, würden dann entfallen. Spitzenkandidat*innen wären überall in der Europäischen Union zu wählen. Und weil sie überall in der EU zu wählen wären, würde es auch in jeder nationalen Öffentlichkeit Journalist*innen geben, die sich die europäischen Kandidat*innen ansehen und in irgendeiner Form darstellen. Es wäre auch für Grüne und Liberale nicht einfach mehr möglich mehrere Kandidat*innen für ein Amt aufzustellen, da auf Listenplatz 1 nur eine Person stehen könnte. Dadurch, dass die folgenden Positionen ebenfalls sichtbar wären, wüsste man aber – das war das Charmante am ALDE Spitzenteam-Modell – auch welche Personen vielleicht noch für die „Topjobs” in Frage kämen.

Nicht zuletzt würden solche Listen Kelemens Problem des „autoritären Gleichgewichts” ein Stück weit reduzieren. Sollten Parteifamilien auch in Zukunft den Fehler machen, Kandidat*innen nur danach auszuwählen, ob sie innerhalb der eigenen Parteienfamilie vermittelbar sind, gäbe es natürliche Rückfalloptionen, da die Kandidaten auf Platz 2 oder 3 der Liste dann Gegenstand der Verhandlung werden könnten. Ein Alex Stubb hätte dann vielleicht auf Platz 2 gestanden und wäre den Wähler ebenfalls nicht ganz unbekannt gewesen. Es hätte erfolgreich verhindert, dass der Europäische Rat plötzliche eine Kandidatin wie ein Kaninchen aus dem Hut zaubert. Eigentlich also ganz gute Aussichten, sofern wir es jetzt zeitnah schaffen den Moment zu nutzen und Geschlossenheit herzustellen.

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