Squid Game und eine gerechtere Welt

, von  Jonas Breitner

Squid Game und eine gerechtere Welt
Der Kapitalismus verleibt sich alles ein, auch seine Kritik Unsplash / Andrew Haimerl / Lizenz

Zwei Männer stehen sich gegenüber. Es regnet in Strömen. Sie sollen ein Kinderspiel spielen. Stattdessen zücken sie ihre Messer und gehen aufeinander los.

Es handelt sich hierbei um eine fiktive Auseinandersetzung in einer der letzten Szenen der südkoreanischen Netfilx Serie Squid Game. Sie beschreibt den marktliberalen Traum: Eine Gruppe an Menschen, formal frei von Unterschieden, gleichberechtigt und demokratisch verfasst, tritt in einem klaren, fairen Wettbewerb gegeneinander an. Aufstiegschancen sind vorhanden, Eigenverantwortung wird großgeschrieben. Leistung lohnt sich, denn sie führt zu Reichtum. Versagen wird bestraft und bringt den Tod.

Die Herrschaft der Leistungsträger: Get rich or die tryin’

Neun Jahre lang, wollte niemand der Geschichte des südkoreanischen Autors Hwang Dong-hyuk eine Chance geben. Jetzt ist Squid Game die erfolgreichste Netflix-Serie aller Zeiten. Die Prämisse: Die Spieler*innen in einer fiktiven Gameshow treten in südkoreanischen Kinderspielen, manchmal mit- manchmal gegeneinander, an und versuchen sechs Spielrunden zu überstehen. Wer es bis zum Ende schafft, wird reich. Wer scheitert, stirbt.

Weltweit ist Südkorea das Industrieland mit der höchsten Selbstmordrate. Das Bild, das die Serie von dem Land zeichnet, ist ein düsteres. Passend dazu wird das Leben der Protagonist*innen in der zweiten Folge als „Hölle“ betitelt. In dieser alten Welt kennen die Spieler*innen nur Schulden, Schuld, Versagen und Verzweiflung.

Mit der Teilnahme an den Spielen entfliehen die Spieler*innen ihrem leiderfüllten Alltag und betreten eine neue Welt. In dieser herrscht augenscheinlich eine Meritokratie – also die gesellschaftliche Vorherrschaft einer durch Leistung und Verdienst ausgezeichneten Gruppe. Sie haben sich freiwillig für diese Welt entschieden und können versuchen ihr Glück zu machen. Es ist die „vom Tellerwäscher zum Millionär“ -Story auf Speed und in Koreanisch. 50 Cent brachte diese Mentalität auf den Punkt, indem er sagte: Get rich or die tryin‘.

Und zumindest sind hier alle Teilnehmenden gleichberechtigt. Formal besteht Chancengleichheit. Frühere gesellschaftlicher Stellung oder Vermögen spielen keine Rolle. Diejenigen, die versuchen sich einen Spielvorteil zu ergaunern werden gnadenlos bestraft. All das verleitete zur These: So betrachtet erscheint die Welt von Squid Game, trotz der besorgniserregend hohen Sterblichkeitsrate, fairer, ja gerechter als die echte Welt da draußen.

Eine Tour de Force, die uns den Spiegel vorhält

Also altbekannte Kapitalismuskritik, nur eben aus Süd-Korea? Mitnichten. In dieser Serie steckt viel. Sie ist anthropologische Studie, stellt Fragen über die Natur des Menschen als Individuum und in der Gruppe, und behandelt nebenbei noch die ganze Bandbreite menschlicher Emotionen: Loyalität, Freundschaft, Liebe, Scham, Verzweiflung, Wut und Güte. Und natürlich fließt eine ganze Menge Blut. Was die Serie jedoch abhebt ist, wie effektiv sie uns und der Gesellschaft, in der wir leben, den Spiegel vorhält.

Denn je länger die Spiele andauern, je höher die Teilnehmenden steigen, desto mehr zerfasert das Regelgefüge. In den Nächten zwischen den Spielrunden wird munter gemordet, ohne dass das jemand kümmern würde. Das krasseste Beispiel dafür geschieht in der vorletzten Runde, in der die Spieler*innen Verstand, Können und Kooperation nutzen, um das Spiel selbst zu schlagen. Langweilig! – empören sich die zahlenden Zuschauer. Die Reaktion: Die Spielmacher ändern die Regeln, rauben den Vorteil, machen buchstäblich die Lichter aus. Die Mächtigen schreiben die Regeln und zwar so, dass sie gewinnen, unterhalten werden, ihre Interessen durchsetzen.

Spätestens hier wird klar: Die Spiele sind Abbild unserer Gesellschaft. Und die Spieler*innen, das sind wir –Die Spielmacher sind andere. „The game is rigged!“, wäre wohl der treffende Kommentar des US-Comedians George Carlin zum Zerbrechen der Scheinwelt. Damit fällt die anfängliche These in sich zusammen. Squid Game ist nicht fairer als unsere Welt, nur ehrlicher in ihrer Brutalität und leichter zu verstehen.

Was wäre, wenn?

Doch was wäre, wenn wir in einer idealen Meritokratie leben würden? Ein Gedankenexperiment: Die Regeln wären für alle gleich, transparent und unveränderbar. Jede*r hätte die gleichen Startbedingungen, die gleiche Chance im Leben. Nicht Papas Kontakte oder Vermögen, sondern allein das eigene Streben, die eigene Leistung, der eigene Wille entscheiden darüber, ob man in der gesellschaftlichen Ordnung unten oder oben steht. Das Prinzip: Wenn jeder Mensch die gleiche Chance hat, verdienen die Gewinner*innen die Gewinne. Der Traum der brennenden Meritokraten geht in Erfüllung.

Die Tyrannei der Meritokratie

Doch bei genauerer Überlegung verwandelt sich dieser Traum schnell in einen Albtraum. Wenn man wirklich „seines eigen Glückes Schmied“ ist, so ist man auch für sein Unglück verantwortlich. Die Erfolgreichen sind stolz auf ihren Erfolg, sie sehen herab auf die Erfolglosen, die niemandem die Schuld geben könne, außer sich selbst. Dies führt zu Überheblichkeit auf der einen, und Verbitterung auf der anderen Seite. Die Folge: Polarisierung und schlussendlich Spaltung der Gesellschaft, die unter Leistungsdruck zusammenbricht.

Was meritokratische Träumer gerne ausklammern, sind einige unangenehme Fragen: Ist es mein Verdienst, an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit geboren worden zu sein? Ist es mein Verdienst gewisse Begabungen zu besitzen, über die andere nicht verfügen? Ist es mein Verdienst, dass ich in einer Gesellschaft lebe, die diese Art von Begabung wertschätzt und entlohnt?

Brutales Gedankenexperiment

Ein Schritt weiter: Du trittst in einem 100-Meter-Lauf gegen den Weltklasse-Sprinter Usain Bolt an. Ihr startet gleichzeitig, habt die gleiche Strecke vor euch, gleiches Equipment, gleiche Startbedingungen. Es wäre ein fairer Wettbewerb, fairer als die meisten in diesem Leben. Aber hättest du eine Chance zu gewinnen? Das Spiel ist fair, gerecht ist es nicht. Squid Game macht nichts weniger als dieses Gedankenexperiment auf mehrere, tödliche, Spiele auszuweiten.

Denn wäre Usain Bolt stolz über den Sieg? Wohl eher nicht. Solltest du dich über Ihre Niederlage grämen? Ebenso wenig. Denn auch wenn die Welt absolut fair wäre, so wären ihre Bewohner*innen nicht gleich. Menschen haben schlicht verschiedenen Talente, Fähigkeiten, Interessen und Begabungen. Wir als Menschen sind nicht gleich, wir sind nur gleich viel wert.

Was tun? Im Wechselspiel zwischen Individuum und Institution

Was also ist eine, wenn schon nicht gerechte, dann zumindest gerechtere Gesellschaftsordnung? Der Philosoph Michael Sandel rät den Gewinnenden zu mehr Demut und gibt Handlungsempfehlungen, um zerbrechende Gesellschaften wieder zu versöhnen. Denn das Beruhigende an Squid Game ist, dass die Gesellschaftsordnung, die es zeichnet, nicht real ist. Jedenfalls noch nicht.

Anders als in der Serie kann man Menschen in demokratisch verfassten Gesellschaften noch eine gewisse Mitbestimmung über die Institutionen der Gesellschaft unterstellen, in der sie leben. Denn Institutionen sind die Spielregeln unserer Gesellschaften. Und, das zeigt auch Squid Game, Institutionen prägen den Mensch. Die Spieler*innen verändern sich im Verlauf der Zeit. Doch der Mensch kann auch die Institutionen prägen. Am Ende stehen sich im Squid Game zwei Männer mit Messern gegenüber und die Spielregeln diktieren: nur einer darf überleben. Die Frage, die die Serie an uns richtet, ist: Wollen wir so spielen?

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