1. Mai 2019. Es ist 7 Uhr morgens. Die Straßen sind wie leergefegt. Viele schlafen heute aus. Das Café Ohm in Düsseldorf ist allerdings gefüllt mit jungen Gewerkschafter*innen. Die Müdigkeit wird mit Kaffee weggespült und Brötchentüten werden herumgereicht. Im Hintergrund läuft Musik. Die vorher erstellte Playlist besteht vornehmlich aus antifaschistischen Liedern. Nach der gemeinsamen Stärkung beginnen die Vorbereitungen für die Demo. In den europäischen Farben leuchtet der Slogan „The future is equal“ auf der selbst bemalten Plane. Die Finger der jungen Gewerkschafter*innen sind eisig kalt, als sie am parkenden LKW befestigt wird. Ihre Hoffnungen auf warmes Wetter sind nicht in Erfüllung gegangen. Drinnen werden Hunderte Ballons mit Helium gefüllt. Nach und nach trudeln auch die Erwachsenen ein. Die Demo-Ordner*innen werden noch einmal eingewiesen, bevor es losgeht. Um 11 Uhr setzt sich der Demozug in Bewegung, mehr tanzend als gehend. Es ist laut, denn genau darum soll es gehen.
Arbeiter*innenbewegung verwurzelt in den USA
Der Tag der Arbeit blickt auf eine lange Geschichte zurück. Es waren Gewerkschaften in den USA, die 1886 Arbeitnehmer*innen zum mehrtägigen Streik aufriefen – damals vor allem Arbeitskräfte der Industriebranche. Die Einführung eines Acht-Stunden-Tages wurde schon seit 1865 gefordert und sollte nun durchgesetzt werden. Bis dahin war es völlig normal, dass bis zu 13 Stunden am Tag gearbeitet wurde. Beginnen sollte dieser Streik am 1. Mai, der als „Moving Day“ bekannt war. Bis zu diesem Tag wurden alte Arbeitsverträge aufgehoben oder neue geschlossen, was häufig auch mit einem Wechsel des Wohnortes einherging. Einen Schatten auf den sonst erfolgreichen Tag warf der Vorfall vom Streik am Haymarket in Chicago: Durch eine Bombe wurden sieben Polizisten getötet und zahlreiche weitere Menschen verletzt. Sieben der Organisatoren der Demonstration, die laut der Polizei Anarchisten gewesen seien, wurden ohne irgendeine Beweislage festgenommen. Vier von ihnen wurden gehängt, ein weiterer beging in seiner Gefängniszelle Suizid. Die anderen drei wurden sechs Jahre nach dem Vorfall begnadigt.
Im Jahr 1890 wurde dann erstmals im Deutschen Kaiserreich am Tag der Arbeit gestreikt. Im internationalen Vergleich wurde dort nur ein Neun-Stunden-Arbeitstag gefordert und umgesetzt wurde schließlich ein 10-Stunden-Tag. Aber das entstandene Gemeinschaftsgefühl bewog Vertreter*innen der Gewerkschaften in Deutschland noch im selben Jahr zur Gründung der „Generalcommission der Gewerkschaften Deutschlands“ – der erste Vorläufer des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Mittlerweile gibt es nicht nur eine Vielzahl von nationalen Gewerkschaftsbünden, sondern seit 1973 auch den Europäischen Gewerkschaftsbund, welcher aktuell rund 45 Millionen Mitglieder repräsentiert. Dieser setzt sich zum Beispiel für einen Kampf gegen die Klimakrise ein, der gleichzeitig gerecht für Arbeitnehmer*innen ist.
Keine Demo ohne den DGB
Der parteiunabhängige DGB organisiert jedes Jahr deutschlandweit riesige Demo-Züge und Kundgebungen zum Tag der Arbeit. „Europa. Jetzt aber richtig!“ lautet das Motto von 2019. Dem Aufruf zum 1. Mai sind in Düsseldorf 1500 Menschen gefolgt. Neben den Gewerkschaften sind auch Parteien, Vereine und Menschen ohne Zugehörigkeit zu jeglichen Organisationen dabei. Sechs der jungen Gewerkschafter*innen haben riesige Ballons in Form von Buchstaben an ihren Beuteln befestigt. Nebeneinanderstehend ist zu erkennen: Sie bilden EUROPA. Dass aufgrund einer falschen Lieferung ein C spontan zum U umfunktioniert wurde, trübt die Stimmung nicht, sondern sorgt eher für amüsiertes Lachen. Generell ist die Stimmung ausgelassen. Die Kälte wird laufend weggetanzt und wie weit es noch zum Kundgebungsort ist, spielt keine Rolle. Wichtig ist den Demonstrierenden, ihre Botschaft klar zu machen. Mit „The future is equal“ („die Zukunft ist gleichberechtigt“) ist viel gemeint. Auch eine europäische Solidarität. Vor allem, weil die Europawahl so kurz bevorsteht.
Der 1. Mai: Ein Feiertag für alle?
Die SPD beschloss schon auf dem Parteitag im Oktober 1890, dass der 1. Mai zum offiziellen und dauerhaften „Feiertag der Arbeiter“ werden sollte. 1919 wurde der 1. Mai zum gesetzlichen Feiertag erklärt, jedoch galt dieser nur für ein Jahr. Die Gegenmeinung lautete, dass es sich um einen Feiertag für eine einzelne Gruppe von Menschen handelte und auf Basis dessen kein nationaler Feiertag bestimmt werden könnte. Aber auch innerhalb der Arbeiter*innenbewegung gab es Meinungsverschiedenheiten darüber, wie der 1. Mai auszusehen hatte. So kam es am 1. Mai 1929 zum „Blutmai“: Aufgrund befürchteter Unruhen wurde ein Demonstrationsverbot über die Stadt Berlin verhängt, welches von der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) ignoriert wurde. Es kam zu Schießereien, bei denen 28 Menschen ums Leben kamen.
1933 erklärte Adolf Hitler dann, gerade erst zum Reichskanzler gewählt, den 1. Mai zum gesetzlichen Feiertag: Tag der nationalen Arbeit. Dies gehörte zu einer Strategie von ihm und Goebbels: Der 1. Mai eignete sich perfekt, um Stärke, vor allem militärische Präsenz, zu demonstrieren. Nur einen Tag später, am 2. Mai, wurden die Gewerkschaftshäuser besetzt und Gewerkschafter*innen festgenommen. Auch in Düsseldorf wurde das Gewerkschaftshaus gestürmt. Neben zahlreichen anderen Gewerkschafter*innen wurde auch Hans Böckler, der 1949 zum ersten Vorsitzenden des DGB gewählt wurde, in seinem Düsseldorfer Büro festgenommen. Den 1. Mai nutzten Anti-Faschist*innen immer wieder für symbolträchtige Aktionen gegen Hitlers Diktatur. Die von Hitler am 1. Mai 1933 gepflanzte Eiche am Tempelhofer Feld in Berlin wurde noch im selben Sommer heimlich gefällt.
Zwischen Feierlichkeiten, dem Kampf gegen Rechts und einem geteilten Deutschland
Antirassismus, Antifaschismus und generell die Arbeit gegen jegliche Form von Diskriminierung stellen einen wesentlichen Teil der Arbeit des DGBs und besonders der DGB Jugend dar. Auf der Demo zum Tag der Arbeit tönen daher wie selbstverständlich anti-rassistische Lieder aus Lautsprechern von der LKW-Ladefläche, die von den Düsseldorfer*innen aus voller Überzeugung mitgesungen werden. Vor allem jetzt vor der Europawahl ist es das größte Ziel, viele Menschen und gerade auch viele junge Menschen zum Wählen zu motivieren, um die prozentualen Anteile für rechte Parteien so gering wie möglich zu halten.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, wurde im April 1946 der 1. Mai als Feiertag vom Alliierten Kontrollrat bestätigt. In der DDR und der BRD entwickelten sich die Feierlichkeiten dann in völlig unterschiedliche Richtungen. In der DDR ging es schon ab 1949 nicht mehr um die Rechte von Arbeitnehmer*innen, sondern um wirtschaftliche Erfolge und bessere Produktion. Ab 1956 wurde der 1. Mai dann immer mit Militärparaden nach Vorbild der Sowjetunion begonnen. In der BRD wurde 1949 der DGB gegründet und war im Anschluss für die Planung und Durchführung des 1. Mai verantwortlich. Zwei Jahre später wurde die Tradition begonnen, die politische Kundgebung mit einem kulturellen Programm abzurunden. In der BRD hatten Menschen zunehmend das Gefühl, der 1. Mai sei eher eine Freizeitbeschäftigung anstatt eines politischen Kampf- und Feiertages. Im vereinten Deutschland hielt 1990 der damalige DGB-Vorsitzende Ernst Breit nach 58 Jahren erstmalig wieder eine freie gewerkschaftliche Rede vor dem gesamtdeutschen Publikum. Dies war in vielerlei Hinsicht ein historischer Tag, denn in diesem Jahr handelte es sich auch um den 100. Jahrestag des 1. Mai.
Europa im Blick: #SolidarischNichtAlleine
Auch heute ist es noch üblich, die Kundgebungen mit einem kulturellen Rahmenprogramm abzurunden. Es gibt Live-Musik zwischen den Redebeiträgen und an den Imbissbuden stärken sich vor allem die Demonstrant*innen, die zuvor auf den Straßen waren. Auch die Gewerkschaftsjugend hat einen festen Platz im Bühnenprogramm. Ihre Forderungen sind stark auf die Europawahl im Mai gerichtet. Sichere Fluchtwege, eine europäische Strategie gegen Jugendarbeitslosigkeit und ein europaweiter Standard in der Ausbildung sind Teil der politischen Forderungen und des Bühnenparts. Die jungen Menschen stellen nochmal klar: Anti-Demokratische Parteien sind keine Alternative.
Dieses Jahr wird nicht demonstriert – zumindest nicht auf den Straßen. Die Planungen der Monate zuvor wurden von der Corona-Pandemie durchkreuzt. Auf der Düsseldorfer Kundgebung sollte dieses Jahr Ministerpräsident Armin Laschet sprechen. Die DGB Jugend hatte besondere Pläne, um ihn auf die Forderungen der jungen Gewerkschafter*innen aufmerksam zu machen. Innerhalb kürzester Zeit mussten neue Aktionen geplant werden, die Online durchgeführt werden konnten. Um wenigstens ein paar Menschen außerhalb der gewerkschaftlichen Blase erreichen zu können, gab es am Tag vor dem 1. Mai eine Kreide-Aktion: Alles natürlich mit Mundschutz und unter Einhaltung des erforderlichen Mindestabstandes. Von Aufrufen, am 1. Mai dennoch auf die Straßen zu gehen, distanziert sich der DGB ausdrücklich. „Mit Anstand Abstand halten“ heißt es auf allen Ebenen. Unter dem Motto #SolidarischNichtAlleine gab es in den vergangenen Wochen Aktionen auf den Sozialen Medien und am Tag der Arbeit selbst gibt es einen Livestream mit Künstler*innen, Talks und Interviews unter eben jenem Slogan.
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