Genau genommen ist der Begriff „Brexit“ irreführend: Es ist nicht allein Großbritannien, das den Austritt aus der Europäischen Union beschlossen hat, sondern das Vereinigte Königreich. Zu dem zählen neben den auf der Insel Großbritannien gelegenen Landesteilen England, Schottland und Wales auch das auf der benachbarten, irischen Insel gelegene Nordirland. Die Mehrheit der Bevölkerung Nordirlands hat dafür gestimmt, in der EU zu verbleiben, wurde jedoch von der Mehrheit in anderen Landesteilen überstimmt.
Heute ist auf der irischen Insel keine Grenze sichtbar. Einige Straßen weisen zwar mit Schildern auf den Grenzübergang hin, an anderen Stellen fehlt aber jegliche Markierung. Wer aus Nordirland in die Republik Irland fährt, dem fällt dann erst, wenn die Straßenschilder die erlaubte Fahrgeschwindigkeit nicht länger in Meilen pro Stunde, sondern in Stundenkilometer angeben, auf, dass er eine Landesgrenze überquert hat. Mit dem Brexit würde jedoch eine EU-Außengrenze zwischen Nordirland und der Republik Irland entstehen.
Handel in der Grenzregion
Vor den Auswirkungen des Brexits auf den Außenhandel des Vereinigten Königreichs wurde wiederholt gewarnt, da ein Austritt aus der EU auch einen Austritt aus dem EU-Binnenmarkt bedeuten kann. Ob dieser zustande kommt, wird verhandelt – und das unter Zeitdruck. Für Nordirland stellt der Handel jedoch ein besonderes Problem dar: Als einziger Landesteil des Vereinigten Königreichs, das an ein anderes Land, an die Republik Irland, angrenzt, sieht es insbesondere den im Moment noch regen Handel mit dem Nachbar im Süden bedroht.
Großbritannien hat inzwischen Pläne für den Umgang mit Nordirland nach dem Brexit vorgelegt: Dazu zählen Beteuerungen, dass es keine Grenzkontrollen geben wird und dass Nordirland einen Doppelstatus erhalten solle. Nicht alle nordirischen Unternehmen glauben jedoch daran, auch weil die EU diesen Versprechen noch nicht zugestimmt hat. Einige denken daher über den Umzug in den Süden nach.
Bürgerkrieg: The Troubles
Der Handel ist jedoch nicht die einzige Bedrohung: Erst seit dem „Good Friday Agreement“, dem Karfreitagsabkommen von 1998, ist Frieden im Norden der irischen Insel eingekehrt. Die Zeit davor wurde von blutigen Konflikten geprägt, die zahlreiche Opfer forderten. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stand die Frage, ob Nordirland eine Wiedervereinigung der gesamten irischen Insel anstreben oder weiterhin zu Großbritannien gehören sollte.
Die Geschichte Nordirlands ist keine einfache: Sie beginnt 1920, als das Vereinigte Königreich ein Gesetz erlässt, dass die irische Insel in Nord- und Südirland teilt. Aus letzterem formte sich die spätere Republik Irland, während Nordirland weiterhin Großbritannien angehörte. Neben den überwiegend irischen Katholiken zählen aus England und Schottland stammende Protestanten zur Bevölkerung Nordirlands. Letztere förderten nach der Teilung ein sich als protestantisches Land verstehendes Nordirland, in dem sich Katholiken zunehmend unterdrückt fühlten.
Ab 1969 kam es zu einem Machtkampf zwischen den beiden Gruppierungen, der u.a. durch Angriffe der paramilitärischen Provisional Irish Republican Army (PIRA) zu einem Bürgerkrieg führte. Erst 1998 konnten die Konflikte in einem Abkommen münden, mit dem beide Seiten zufrieden war: Das Karfreitagsabkommen legte u.a. fest, dass an der Regierung jeweils beide Bevölkerungsgruppen beteiligt sein müssen.
In den Straßen von Belfast ist das Misstrauen auch heute spürbar. Eine Mauer zieht sich durch die Stadt: Sie trennt die von pro-irischen Republikanern bewohnten Wohnbezirke von jenen, die von pro-britischen Unionisten bewohnt werden, und simuliert Sicherheit. Seit 1998 ist es dennoch zu mitunter tödlich endenden Ausschreitungen gekommen: Dazu zählen Angriffe mit u.a. Bomben und Molotowcocktails sowie der 2015 durch frühere PIRA-Mitglieder ausgeführte Mord an Kevin McGuigan, selbst ehemaliges PIRA-Mitglied.
Aufgelöste Regierungskoalition
Wie der Brexit auch ausgeht, er rüttelt an dem Status-quo, wie Nordirland ihn bisher kannte: Nicht nur bringt er eine physische Grenze zwischen Nordirland und die Republik Irland im Süden, auch macht er die Macht, die Großbritannien über Nordirland hat, spürbar. Angst vor möglicherweise gewalttätigen Aufruhen, wenn sich pro-irische Republikaner den Austritt aus der EU nicht von Großbritannien diktieren lassen möchten, macht sich breit.
Das Datum, an dem das Vereinigte Königreich nicht länger EU-Mitglied sein wird, rückt näher und die Fragezeichen rund um die Diskussion, wie genau der Brexit aussehen soll, werden mehr. Währenddessen fehlt Nordirland jedoch eine offizielle Regierung: Im Januar 2017 trat Martin McGuinness, damals stellvertretender Erster Minister und von der irisch-republikanischen Partei Sinn Féin, zurück. Weil die Regierung Nordirlands aus beiden Bevölkerungsgruppen bestehen muss, verlor auch ebenso automatisch wie unfreiwillig Arlene Foster, Erste Ministerin und von der pro-britischen Democratic Unionist Party (DUP), ihr Amt. Beamten halten den Alltagsbetrieb seitdem am Leben. Eine Regierung, die Entscheidungen treffen könnte, gibt es jedoch nicht.
Es ist ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt für das Auflösen der Regierungskoalition: In den Brexit-Verhandlungen gibt es demnach keine Regierung, die die Interessen Nordirlands vertreten könnte. Sinn Féin hält die Meinungsunterschiede und das Misstrauen zwischen den Parteien für zu groß, um wieder eine Koalition einzugehen. Die DUP hingegen bezeichnet das Verhalten des ehemaligen Partners als Boykott. Stimmen werden laut, dass Sinn Féin mit allen Mitteln versuche, ein Referendum zu provozieren, dass eine Unabhängigkeit Nordirlands oder eine Wiedervereinigung der irischen Insel ermögliche. Ähnliche Bestrebungen Schottlands wurden jedoch bereits davon gedämpft, dass der Landesteil nach möglicher Unabhängigkeit nicht automatisch EU-Mitglied bleiben könnte, und gestalten sich daher prinzipiell schwierig.
Nordirland ohne Vertretung
Es ist nicht in Frage zu stellen, dass der Brexit eine immense Bedeutung für die irische Insel hat. Eine Rückkehr zu Grenz- und Zollkontrollen erinnert an Zeiten, die Nordirland hinter sich gelassen haben möchte und die dennoch mehr als präsent im Bewusstsein der Nordir*innen ist. Nordirland ist jedoch nicht nur ein Landesteil, das selbst nicht für den Brexit gestimmt hat, sondern auch dem eine funktionierende Interessensvertretung fehlt: Solange sich keine Regierung bildet, ist es still in Stormont, wo die Nordirland-Versammlung nicht zusammentreffen und die Interessen ihrer Bevölkerung vertreten kann.
1. Am 16. Oktober 2018 um 15:17, von Tony Janssen Als Antwort Stille in Stormont: Nordirland vor dem Brexit
Ich hoffe, dass der von unverantwortlichen und machtbesessenen Populisten a la David Cameron bis Nigel Farage provozierte Brexit immerhin ein wunderschönes Nebenprodukt mit sich bringt, nämlich die Wiedervereinigung Irlands. Kolonialgeister wie Thersa May verstehen sehr sehr gut, was Schaden- freude ist, etwas was sie wohl immer spürten ,wenn das britische Empire die Völker der Welt unterdrückte und was jetzt wir, Freunde Irlands, der „ersten Kolonie Englands“, spüren, wenn die englischen Siedler endlich Irland freigeben....
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