Der Verband Südostasiatischer Nationen, kurz ASEAN (Association of Southeast Asian Nations), und die Europäische Union können die „weltweit am weitesten fortgeschrittene Integration“ vorweisen, wirbt ein Werbevideo der Vertretung der Europäischen Union in Indonesien. Vor diesem Hintergrund scheint es selbstverständlich, dass die beiden Organisationen ein aufgrund ihrer ähnlichen Natur enges Verhältnis zueinander pflegen. Hoffnungen auf ein Freihandelsabkommen zwischen den beiden Regionen wurden jedoch 2007 erschüttert, als sich bei einem Treffen der Wirtschaftsminister*innen in Nürnberg herausstellte, dass ein solches (noch) nicht möglich sein würde. Stattdessen wurde begonnen, bileraterale Freihandelsabkommen angefangen mit Singapur zu verhandeln.
Integration als Antwort auf Konflikte
Allein die Selbstbeschreibung der Partnerschaft der beiden Regionen legt den Vergleich zwischen ihnen jedoch nahe. Ihre Geschichte beginnt zwar nicht zur selben Zeit, aber mit einer Gemeinsamkeit: Als 1967 der Verband Südostasiatischer Nationen gegründet wurde, war die Europäische Gemeinschaft bereits zahlreiche Schritte auf dem Weg zu regionaler Integration gegangen. Gegründet wurden aber beide, um Konflikte zu verhindern: im Fall der EU nach dem Zweiten Weltkrieg, im Fall von ASEAN als Reaktion auf regionale Konflikte infolge der nicht lange zuvor errungenen Unabhängigkeit der Mitgliedsländer.
Insbesondere in den 90er Jahren ging ASEAN wichtige Schritte auf dem Weg zu verstärkter Integration: So wurde u.a. die ASEAN-Freihandelszone geschaffen, die die südostasiatischen Länder auch für europäische Unternehmen zunehmend interessanter machte. Politisch gesehen hatten ASEAN und die EU zu dieser Zeit nur selten gemeinsame Ziele. Eine Ausnahme stellte jedoch z.B. der Einmarsch Vietnams in Kambodscha dar, die sowohl die EU als auch ASEAN scharf verurteilten. Während die EU in den 90ern begann, entwicklungspolitische Projekte an das Erfüllen von Standards u.a. in Bezug auf Menschenrechte zu koppeln, sah ASEAN von einer Zusammenarbeit in politischen Fragen jedoch weitgehend ab.
ASEAN und seine Besonderheiten
Südostasien ist eine äußerst vielfältige Region: Da sind die islamisch geprägten Länder wie z.B. Indonesien, da ist Vietnam, das zu über 80 Prozent atheistisch ist, und das daran angrenzende buddhistisch geprägte Laos. Da ist Singapur, das auf der Liste mit den weltweit höchsten Lebenshaltungskosten einen der ersten Plätze einnimmt, sowie finanziell schwächere Länder wie Myanmar. Da ist die von Militärputschen beherrschte politische Geschichte Thailands sowie die von seit seiner Gründung einzig und allein durch die People’s Action Party gelenkte Geschichte Singapurs. Da sind kapitalistische Staaten, aber eben auch die beiden sozialistischen Staaten Laos und Vietnam, Demokratien, aber eben auch andere Regierungsformen wie die absolute Monarchie des kleinen Sultanats Bruneis. Die verschiedenen Interessen einer so diversen Region unter einen Hut zu bringen ist keine einfache Aufgabe.
Auch hat die Kolonialgeschichte der südostasiatischen Nationen Spuren in ihrem Selbstverständnis hinterlassen, die Europa so nicht kennt: Um das Territorium jedes Staates sowie dessen Unabhängigkeit zu schützen, steht die Souveranität eines jeden Mitglieds innerhalb des Verbandes an erster Stelle. Deren Schutz wird damit zum gemeinsamen Ziel. Weniger relevant ist im Umkehrschluss das Erarbeiten von Regeln, die in Solidarität geteilt werden und auf supranationaler Ebene über den Mitgliedsstaaten stehen. Ein Parlament wie das Europäische, in dem alle Abgeordneten eines Landes unabhängig ihrer Fraktion von Abgeordneten anderer Länder überstimmt werden können, ist daher für die südostasiatischen Staaten und ihre Gemeinschaft (noch) undenkbar. Damit wird deutlich, wie sehr sich die beiden Organisationen in ihrer institutionellen Entwicklung und in dem Ausmaß übertragener Souveranität unterscheiden.
Auf dem Weg zu mehr Zusammenarbeit
Die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den beiden Regionen könnte in der Zukunft durch ein Freihandelsabkommen zwischen ASEAN und EU vertieft werden. Kritiker*innen bezweifeln jedoch, ob ASEAN nicht zuletzt aufgrund der Subvention von Produkten, die die EU exportiert, von einem möglichen Freihandelsabkommen im selben Ausmaß profitieren könnte wie die EU selbst. Spätestens seitdem es ASEAN jedoch 2015 gelang, die ASEAN-Wirtschaftsgemeinschaft zu bilden, wird die Gemeinschaft zu einem immer wichtigeren Absatzmarkt und einer immer wichtigeren Produktionsbasis für europäische Unternehmen.
Aus politischer Sicht hingegen war es lange Zeit die Situation in Osttimor, die zu Konflikten zwischen ASEAN und der EU führte: 1975 wurde der Inselstaat unabhängig von Portugal, nur neun Tage später besetzte Indonesien das Land. Reagierten westliche Stimmen entsetzt auf die menschrechtlichen Verbrechen unter indonesischer Herrschaft, berief sich ASEAN auf sein zentrales Versprechen, sich nicht in die Angelegenheiten eines Mitglieds einzumischen. Heute rücken Myanmar und die Vertreibung der muslimischen Minderheit der Rohingya in den Fokus der Öffentlichkeit. Dazu kommen weitere Konflikte, beispielsweise Kritik am Umgang der philippinischen Regierung mit Journalist*innen.
Die EU steht vor einem Dilemma: Sie ist auf der Suche nach wirtschaftlichen Partner*innen, kann aber zugleich nicht über die menschenrechtlichen Verbrechen in südostasiatischen Ländern hinwegsehen, ohne ihre eigenen Werte zu verraten. 2008 bildete ASEAN jedoch z.B. eine Intergovernmental Commission on Human Rights, die in der Zukunft das Einhalten menschenrechtlicher Standards gewährleisten soll. Damit ist der Verband deutliche Schritte in die Richtung einer Annäherung an internationale Normen gegangen, wenn auch insbesondere die Zustände in Myanmar die Effizienz der Kommission fragwürdig erscheinen lassen.
Wirtschaftliche Zusammenarbeit, politische Differenzen
Die Kooperation zwischen den beiden Regionen konzentriert sich damit weiter auf wirtschaftliche Zusammenarbeit, internationalen Handel und entwicklungspolitische Kooperation, wie auch ASEANs Agenda für das anstehende Gipfeltreffen zeigt: Die Erwartung, dass die Region sich bis 2030 zur weltweit viertgrößten Wirtschaft entwickeln könnte, stellt insbesondere die regionale, wirtschaftliche Integration auf die Tagesordnung. Fragestellungen rein politischer Natur werden nur zweitrangig genannt.
Ende Oktober haben sich Bangladesch und Myanmar auf die Rückführung von mehr als 700 000 Angehörigen der Rohingya geeignet. Die Aufarbeitung der menschenrechtlichen Verbrechen an den Mitgliedern der Gruppe steht dennoch weiterhin aus und scheint nicht in Reichweite. Damit bleibt ein wesentliches Problem, das sich in den Weg einer engeren Verbindung zwischen ASEAN und der EU stellt - und menschenrechtliche Verbrechen von einem Ausmaß darstellt, das die EU keinesfalls vergessen sollte.
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