Die Erfolgsgeschichte Orbáns

Ungarn im Notstand: Was ist da los? – Teil 1

, von  Stefanie Neufeld

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Ungarn im Notstand: Was ist da los? – Teil 1
Viktor Orbán ist seit 2010 Ministerpräsident in Ungarn. Foto: Flickr / European People’s Party / CC BY 2.0

Keine Wahlen, keine Referenden, dafür umfassende Sondervollmachten für Ministerpräsidenten Viktor Orbán: So sieht der Notstand aus, den Ungarn angesichts der Corona-Pandemie beschlossen hat. Unter den europäischen Nachbarländern sorgt das Gesetz für Aufregung. treffpunkteuropa.de-Autorin Stefanie Neufeld beleuchtet in einem Zweiteiler Orbáns politische Erfolgsgeschichte und ordnet die aktuelle Entwicklung ein.

Orbáns politische Karriere ist von nationalem Zuspruch und internationalem Argwohn gezeichnet. Zum Ministerpräsidenten wählten ihn die Ungar*innen bei vier aufeinanderfolgenden Wahlen, während sein Handeln vor allem von westeuropäischen Staaten scharf kritisiert wird. In der Vergangenheit musste er sich wiederholten Verfahren um einen Ausschluss seiner Partei Bund Junger Demokraten (Fidesz) aus der Europäischen Volkspartei (EVP) und sogar einem Grundwerteverfahren zur Überprüfung einer potenziellen Gefährdung von Grundwerten der Europäischen Union stellen. Dennoch scheint seine Position in Ungarn unerschütterlich.

Exkurs in die Geschichte Ungarns

Budapest 1989: Im Rahmen der feierlichen Umbettung des ungarischen Nationalhelden Imre Nagy forderte ein Sprecher der Universitätsjugend eine Regierung, die sich für den Abzug russischer Kräfte einsetzt. Viktor Orbán, damals ein 26-jähriger Student, vertrat die Meinung, dass Kommunist*innen auf dieser Veranstaltung nicht willkommen seien. Orbán machte sich mit dieser umstrittenen Rede erstmalig einen Namen. Um zu verstehen, was Nagy zum Nationalhelden werden ließ und wieso Orbán sich mit seiner Position durchsetzen konnte, lohnt sich ein Blick in die jüngere Geschichte des Landes.

Durch die Krim-Konferenz im Februar 1945 gelang Ungarn unter sowjetische Kontrolle. Bis 1953 herrschte ein stalinistischer politischer Kurs, der durch den Ministerpräsidenten Mátyás Rákosi als Parteichef der Partei der Ungarischen Werktätigen (MDP) vorangetrieben wurde. 1953 wurde dieser von seinem Parteikollegen Imre Nagy als Ministerpräsident abgelöst. Durch dessen Forderung eines „nationalen und menschlichen Sozialismus“ löste Nagy einen innerparteilichen Machtkampf aus, den er jedoch verlor. Im April 1955 wurde er seiner Ämter in der MDP enthoben, als Ministerpräsident abgesetzt und von der Partei ausgeschlossen.

Mit der anschließenden Politik unzufrieden protestierten im Oktober 1956 zahlreiche Student*innen. Die Proteste entwickelten sich zum ungarischen Volksaufstand, bei dem die Rückkehr Imre Nagys ins Amt des Ministerpräsidenten gefordert wurde. Nagy erkannte die Revolution offiziell an und wenige Tage später, am 1. November 1956, proklamierte er die Neutralität Ungarns und kündigte die Mitgliedschaft im Warschauer Pakt auf, der im Kalten Krieg ein Gegenstück zum NATO-Bündnis der USA dargestellt hatte und daher von enormer Bedeutung für die Sowjetunion war. Erzürnt über Nagys Handeln schlugen sowjetische Kräfte die Aufstände blutig nieder. Nagy versuchte zu fliehen und kam für drei Wochen in der jugoslawischen Botschaft unter. Nachdem ihm Straffreiheit zugesichert worden war, verließ er die Botschaft, wurde aber gemeinsam mit seinen Begleitern vom KGB, dem sowjetischen Geheimdienst, verhaftet. Am 16. Juni 1958 wurde er wegen Landesverrates und versuchten Sturzes der „volksdemokratischen Staatsordnung“ verurteilt und am selben Tag durch Hängen im Budapester Gefängnis hingerichtet

Die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei (MSZMP) ließ in den folgenden Jahren erste Liberalisierungsbemühungen zu. Nach weiteren Jahren mit ihr als Regierung wurde 1989 die Republik Ungarn ausgerufen und ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärt. Nach dieser politischen Wende wurde Nagy im selben Jahr offiziell rehabilitiert und feierlich in Ungarn umgebettet. Auf eben jener feierlichen Veranstaltung trat Viktor Orbán mit seiner berühmten Rede auf die Bühne. Innerhalb seiner mitgegründeten Partei Fidesz war seine Rede nicht unumstritten. Orbán setzte sich aber durch und galt bald als Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten.

Orbáns politischer Aufstieg

Schon 1998 wurde Orbán dann tatsächlich Ministerpräsident – verlor dieses Amt aber schon nach einer Legislaturperiode an die Ungarische Sozialistische Partei (MSzP), die eine Koalition mit dem Bund Freier Demokraten (SzDSz) bildete. Nach dieser Niederlage polarisierte die Fidesz-Partei strategisch. Sie bezeichnete den Verlust der Ministerpräsidentschaft als Diebstahl durch exkommunistische linke Kräfte, die sich nach der politischen Wende Positionen in wichtigen Bereichen wie den Medien gesichert hätten.

Nachdem die Regierung aus MSzP und SzDSz im April 2006 wiedergewählt wurde, wurden im September desselben Jahres Mitschnitte des damaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány publik, in denen er Ungarn als „Scheißland“ bezeichnete und sagte, die Regierung habe über die wirtschaftliche Situation des Landes „die ganze Zeit gelogen, von morgens bis abends“. Landesweit sorgten seine Worte für Proteste und gewaltsame Unruhen. Weniger überraschend verlor Gyurcsánys MSzP daraufhin bei den Parlamentswahlen 2010 fast 24 Prozentpunkte an Stimmen. Während die rechte Partei Jobbik die meisten dieser Stimmen für sich gewinnen konnte (über 14 Prozentpunkte), erlang das Bündnis aus Fidesz und KDNP (Christlich-Demokartische Volkspartei) letztendlich eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Anschließend wurde Orbán vom Parlament zum neuen Ministerpräsidenten gewählt. Auch in den Jahren 2014 und 2018 konnte sich Fidesz die meisten Stimmen sichern.

Orbán wird als starker Staatsmann wahrgenommen, der die Rezession beenden konnte und den Ungar*innen zu einem neuen Nationalgefühl verhalf. So machte er sich sehr beliebt damit, dass er der ungarischen Minderheit außerhalb Ungarns Staatsbürgerschaften anbot, die in Territorien lebten, welche Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg abtreten musste. Von anderen Staaten wurde dies jedoch kritisch wahrgenommen: Die slowakische Regierung beschloss im Gegenzug, dass Slowak*innen, welche die ungarische Staatsbürgerschaft beantragen, ihren slowakischen Pass verlieren.

Neues Grundgesetz für Ungarn

Die Regierung unter Orbán hat nichts anbrennen lassen: Zwischen dem Wahlsieg 2010 und Ende 2011, also innerhalb der ersten eineinhalb Jahre nachdem die Fidesz sich eine Zweidrittelmehrheit sichern konnte, verabschiedete sie 360 neue Gesetze. Von diesen sorgten einige für internationale Kritik, darunter jenes 2010 eingeführte Gesetz, das eine staatliche und private Medien gleichsam beaufsichtigende Kontrollbehörde vorsieht, die direkt dem Parlament verantwortlich ist.

Nur zwei Jahre nachdem Orbán Ministerpräsident wurde, am 1. Januar 2012, trat eine neue Verfassung in Kraft. Ihre Präambel erhielt den Titel „Nationales Glaubensbekenntnis“, Gott und dem Christentum wurden eine zentrale Bedeutung beigemessen. Heute nutzt Orbán diese Verfassung beispielsweise, um ausschließlich die „klassische Familie“, also die heterosexuelle Kleinfamilie, als politisch und gesellschaftlich förderungswürdig zu bezeichnen. Die neue Verfassung sieht auch vor, dass nur noch der*die Staatspräsident*in, die Regierung oder eine Gruppe aus mindestens einem Viertel aller Parlamentarier*innen vor dem Verfassungsgericht klagen dürfen. Vorher konnte jede*r Ungar*in vom Verfassungsgericht fordern, dass Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit geprüft werden.

Nur ein weiteres Jahr später wurden erneute Verfassungsänderungen beschlossen. Der verfassungsrechtliche Schutz von Familien wurde auf heterosexuelle Paare mit Kindern beschränkt. Ungarische Student*innen wurden durch „Studienverträge“ dazu verpflichtet, nach ihrem Abschluss doppelt so lange in Ungarn zu bleiben, wie ihr Studium gedauert hatte. Ansonsten drohen hohe Nachzahlungen. Durch das Anheben einiger bereits bestehender Gesetze in den Verfassungsrang wurde außerdem unter anderem das Nutzen „öffentlicher Räume für Wohnzecke“ unter Strafe gestellt und Wahlwerbung im Privatfernsehen und Rundfunk verboten. Beide Gesetze hatte das Ungarische Oberste Gericht zuvor als nicht verfassungskonform eingestuft. Orbáns umfassende Verfassungsänderungen ermöglichten diesen Schritt aber schließlich.

Ungarns Rechtsstaatlichkeit

Orbáns Politik sorgte international nicht nur für kritische Blicke, sondern auch für ernsthafte Verfahren: 2018 wurde von der EU-Kommission ein Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Ungarn eingeleitet. Dieses Verfahren nach Art. 7 der EU-Verträge stellt das härteste Mittel gegen einen EU-Mitgliedsstaat dar und untersucht eine eventuelle Gefährdung von EU-Grundwerten. Im äußersten Fall führt ein solches Verfahren zum Stimmrechtsentzug im Ministerrat.

Anlass für das Verfahren war ein Bericht, der im Auftrag des Europäischen Parlaments erstellt worden war. Dieser stellte Einschränkungen von Meinungs-, Forschungs- und Versammlungsfreiheit in Ungarn fest, außerdem die Schwächung von Verfassungs- und Justizsystem und das Verletzen der Rechte von Minderheiten. Orbán wies diese Vorwürfe zurück und bezeichnete sich selbst als Schützer von Minderheiten. Als Beispiel führte er seine Unterstützung zur Erlangung der ungarischen Staatsbürgerschaft für ungarische Minderheiten im Ausland an. Orbán argumentierte, dieses Grundwerte-Verfahren diene nur dazu, das ungarische Volk dafür zu bestrafen, dass es kein Einwanderungsland werden wolle. Ungarn und die Slowakei hatten zuvor Klage gegen die EU-Quotenregelung zur Aufnahme von geflüchteten Personen beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) eingereicht. Diese wurde zurückgewiesen. Orbán wolle das Urteil zur Kenntnis nehmen, sagte aber auch, der Richterspruch sei für Ungarn „kein Grund, unsere Politik zu ändern, die Flüchtlinge ablehnt."

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