Die EU gilt als Vorreiterin in der Sozialpolitik, schließlich wird die „soziale Sicherung und soziale Unterstützung“ (Europäisches Parlament 2000) der EU-Bürger*innen sogar in Artikel 34 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union festgehalten. Konkret wird darin eine soziale wie finanzielle Förderung im Falle von Mutterschaft, Krankheit, Arbeitsunfall, Pflegebedürftigkeit, Alter oder Arbeitslosigkeit garantiert, um den Bürger*innen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen und soziale Ausgrenzung zu verhindern. Diese sozialen Dienstleistungen werden als wohlfahrtsstaatliche Strukturen oder ‚Welfare‘ bezeichnet. Welfare basiert auf dem Prinzip der solidarischen Absicherung und garantiert finanzielle Unterstützung unabhängig von einer direkten Arbeitsverpflichtung.
Im Gegensatz dazu verbreitet sich seit den 70ern das ‚Workfare‘-Konzept, eine Abkürzung des Ausdrucks ‚Welfare-to-work‘, was mit ‚Arbeit statt Sozialhilfe‘ zu übersetzen ist. Die Idee der Workfare stammt aus der Kritik, die soziale Versorgung der Wohlfahrtsstaaten sei so hoch, dass sie Menschen aktiv vom Arbeiten abhalten würde. Sobald Personen in Workfare-Systemen wieder in den Arbeitsmarkt integriert wurden, wird ihre finanzielle Unterstützung eingestellt. Während Welfare auf eine soziale Absicherung setzt, werden Menschen durch Workfare oftmals in prekäre Beschäftigungen gedrängt – eine Entwicklung, die soziale Sicherheit eher abbaut als stärkt.
Der Wandel von Welfare zu Workfare
Wohlfahrtsstaatliche Systeme werden im Zuge des Neoliberalismus zunehmend als störende Kostenfaktoren angesehen. Stimmen aus Politik und Wirtschaft fordern deshalb ein Zurückschrauben von Umverteilungspraktiken, um stattdessen den Fokus auf die zügige Reintegration arbeitsloser Menschen in den Arbeitsmarkt zu legen. Der Umbau des Wohlfahrtsstaates verfolgt also das Ziel, Menschen zur Aufnahme einer Beschäftigung zu bewegen und ihre soziale Absicherung mit einem Zwang zur Arbeit zu verbinden. Der Staat setzt dadurch Druckmittel ein, um Menschen zu einer bestimmten Lebensweise zu bewegen.
Diese Re-Kommodifizierung von Arbeitskraft verdeutlicht, dass soziale Absicherung nicht mehr als ein eigenständiges Recht gilt, sondern an wirtschaftliche Verwertbarkeit geknüpft wird. Menschen werden dadurch gezwungen, sich dem Arbeitsmarkt unterzuordnen – oft auch zu schlechten Bedingungen.
Sozialstaatliche Systeme in der EU
Sozialstaatliche Systeme in der EU sind vielfältig, da die Sozialpolitik in der Verantwortung der Mitgliedstaaten liegt. Der Soziologe Gøsta Esping-Andersen (1990) unterscheidet zwischen drei Typen von Wohlfahrtsstaaten, die sich in ihrer Leistungshöhe, Finanzierung und Marktabhängigkeit unterscheiden.
Das kontinentaleuropäische Modell, wie in Deutschland, Österreich oder Frankreich, verknüpft soziale Absicherung stark mit Lohnarbeit, was vor allem FLINTA* ohne Erwerbstätigkeit benachteiligt und nur geringe Umverteilungseffekte hat. In skandinavischen Ländern wie Dänemark, Finnland und Schweden sorgt ein steuerfinanziertes System mit universellen Sozialleistungen für mehr soziale Gleichheit. Das liberale Modell, etwa in den USA oder Großbritannien, setzt auf Eigenverantwortung und den Markt, wobei Sozialleistungen oft nur nach Bedürftigkeitsprüfung gewährt werden und vergleichsweise niedrig ausfallen. (Bundeszentrale für politische Bildung 2020b)
Diese unterschiedlichen Sozialstaatsmodelle sind nicht statisch, sondern unterliegen politischen Veränderungen. Besonders in Europa zeigt sich, wie sozialpolitische Reformen zunehmend durch politische Entwicklungen geprägt werden. In Italien hat die Regierung unter Giorgia Meloni seit 2023 zahlreiche Kürzungen des Wohlfahrtsstaates umgesetzt. So wurde das Bürgergeld (reddito di cittadinanza) für rund 169.000 Familien durch ein Workfare-Programm ersetzt, das monatlich 350€ für Schulungen und berufliche Weiterbildungen in Arbeitsämtern bereitstellt. Die Empfänger*innen können somit nicht länger frei über ihre finanziellen Mittel entscheiden. Ein ähnliches Modell verfolgt Ungarn unter Viktor Orbán bereits seit 2010. Nach dem Ideal einer sogenannten ‚arbeitsbasierten Gesellschaft’ wurden hier Reformen umgesetzt, die das Arbeitslosengeld auf einen maximalen Zeitraum von 90 Tagen begrenzen. Danach sind Arbeitslose dazu gezwungen, jegliche Arbeit anzunehmen, unabhängig von ihrer Qualifikation. Diese Maßnahmen senken zwar offiziell die Arbeitslosenzahlen, treiben jedoch viele Menschen in prekäre Beschäftigungsverhältnisse und verschleiern das tatsächliche Ausmaß der Arbeitslosigkeit.
Während das skandinavische Modell der Idee von Welfare näher bleibt, zeigt sich Workfare besonders stark im liberalen Modell, wo Sozialleistungen strengen Auflagen unterliegen. Auch das kontinentaleuropäische Modell entwickelt sich zunehmend in Richtung Workfare – etwa durch die Hartz-Reformen und das Bürgergeld in Deutschland, die Sozialleistungen an Arbeitsanreize knüpfen. Diese Tendenz ist Teil eines größeren Wandels, der durch den politischen Rechtsruck in Europa zusätzlich beschleunigt wird und soziale Absicherungssysteme zunehmend abschwächt.
Deutschland: Vom Hartz-System zum Bürgergeld – ein echter Wandel?
Die bis 2023 geltenden Hartz-Gesetze waren starke Workfare-Instrumente. Wer Jobangebote ablehnte oder nicht an Weiterbildungen teilnahm, wurde mit einer Kürzung oder dem Wegfall von Leistungen konfrontiert. Der ständige Sanktionsdruck zwang viele Menschen dazu, jede verfügbare Arbeit anzunehmen – auch wenn sie schlecht bezahlt oder befristet war. Dies führte zu einer Zunahme von Unsicherheit und Arbeitsdruck für viele Arbeitnehmende.
Mit der Einführung des Bürgergelds wurden einige Elemente abgemildert: In den ersten sechs Monaten drohen keine unmittelbaren Sanktionen mehr und eine nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt ist stärker in den Fokus gerückt. Doch grundsätzlich bleibt die Logik von Workfare bestehen, da die soziale Absicherung weiterhin an die Pflicht zur Arbeitsaufnahme geknüpft ist.
Auswirkungen von Workfare-Systemen
Insgesamt zeigt sich ein europaweiter Trend: Sozialleistungen werden zunehmend an Arbeitsverpflichtungen gekoppelt. Besonders für junge Menschen oder Beschäftigte in unsicheren Arbeitsverhältnissen nimmt dadurch der Druck zu und die soziale Sicherheit ab.
Junge Menschen sind überdurchschnittlich oft von befristeten Anstellungen oder Arbeitslosigkeit betroffen. Workfare-Programme verstärken diesen Trend, indem sie den Fokus auf schnelle Arbeitsaufnahmen legen und langfristige berufliche Perspektiven außer Acht lassen. Eine Studie der Heinrich Heine Universität Düsseldorf hat zudem folgendes ergeben: „Junge Arbeitnehmer/-innen in unsicheren und flexiblen Beschäftigungsverhältnissen sind häufiger Gesundheitsrisiken ausgesetzt, haben seltener Zugang zu Angeboten des betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutzes und erleben häufiger sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz“.
Die zunehmende Ausrichtung der europäischen Sozialpolitik auf Workfare-Modelle stellt die ursprüngliche Idee des Wohlfahrtsstaates infrage. Anstatt soziale Teilhabe und Sicherheit zu fördern, scheinen diese Systeme zunehmend auf Kontrolle und Integration in den Arbeitsmarkt abzuzielen, ohne langfristige Perspektiven für die Betroffenen zu schaffen. Workfare bietet keine nachhaltige Lösung für soziale Ungleichheit, sondern verstärkt vielmehr die Risiken einer Arbeitswelt, die von Flexibilität und Unsicherheit geprägt ist. In einer Zeit, in der soziale Absicherung zunehmend an die Arbeitskraft gebunden wird, bleibt offen, ob der Wohlfahrtsstaat wirklich noch als Garant für soziale Sicherheit fungiert.
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