Erinnerungskultur

USA: Der dunkle Schatten der Vergangenheit

, von  Benedikt Putz

USA: Der dunkle Schatten der Vergangenheit
1619 landeten in Hampton (Virginia) die ersten afrikanischen Sklav*innen auf dem Boden der Dreizehn Kolonien Foto: Benedikt Putz

Die Vereinigten Staaten von Amerika sind eine wahre success story. In weniger als drei Jahrhunderten wurde aus 13 kleinen Kolonien das mächtigste Land der Welt. Im Schatten diese Erfolges liegen jedoch die dunklen Seiten der US-amerikanischen Geschichte. Die Versklavung von Millionen Afrikaner*innen zählt zu den schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Und ohne diese institutionalisierte Gewalt und Ausbeutung wären die USA wohl niemals so reich und mächtig geworden, wie sie es heute sind. Für das Fortbestehen des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist eine Aufarbeitung dieses Menschheitsverbrechens jedoch ausweglos. Wie sieht die Vergangenheitsbewältigung also auf der anderen Seite des Atlantiks aus? Welche Herausforderungen gibt es? Und was können wir in Europa davon lernen?

Eines Freitags sitze ich in der wunderschönen Riggs Library der Georgetown University in Washington, D.C. Ich bin hier, um einem Vortrag mit dem Generalsekretär des Europäischen Parlamentes zu lauschen. Der Saal ist voll mit Student*innen und Professor*innen der prestigeträchtigen Universität im Herzen der US-amerikanischen Hauptstadt. Eine Professorin betritt das Podium, um den ehrenwehrten Gast aus Europa vorzustellen: „Diese Universität wurde unrechtmäßig auf dem Territorium der Piscataway und Nacotchtank durch Sklavenarbeit errichtet.“ Alle Anwesenden nicken nur leicht oder zeigen gar keine Reaktion. Sie scheinen das nicht zum ersten Mal zu hören. Die Rednerin fährt nun mit der Vorstellung des Gastredners fort. Für mich war dieser Satz jedoch der wichtigste an diesem Nachmittag .

Dunkle Vergangenheit und Erinnerung

Alle Länder dieses Planten haben schreckliche Dinge getan. In der Anerkennung und Aufarbeitung dieser dunklen Kapitel der eigenen Vergangenheit tun sich jedoch fast alle extrem schwer. Die Beispiele dafür sind zahlreich. Russland hat bis heute nicht einmal ansatzweise die Grausamkeit des Holodomor und die damit verbundene Schuld anerkannt. In der Volksrepublik China führten u.a. die Kulturrevolution und der Große Sprung nach vorn zu Millionen Toten. Trotzdem bewertet die Kommunistische Partei Mao größtenteils positiv. In beiden Fällen wird die Erinnerung an die dunklen Kapitel der Vergangenheit unterdrückt, um die eigene Machtposition nicht zu gefährden.

Auch in den Vereinigten Staaten gibt es solch dunkle Kapitel. Insbesondere die versuchte Auslöschung der indigenen Kulturen und die Sklaverei stehen hier im Mittelpunkt. Wie in den genannten Beispielen gestaltet sich die Erinnerung und Aufarbeitung jedoch oft schwierig. Denn die Vereinigten Staaten sehen sich selbst oft als das beste Land, das es jemals gab. Und das in gewissen Teilen aus gutem Grund. Es gab und gibt kein anderes Land, das jemals so viele Menschen aus allen Himmelsrichtungen unseres Planeten integrieren konnte. Die Vereinigten Staaten sind ein wahrer Schmelztiegel der Kulturen. Darüber hinaus sind die USA das reichste Land der gesamten Menschheitsgeschichte und die Wiege unserer modernen Demokratien. Die US-amerikanische Erinnerungskultur muss also sowohl die grausamen Verbrechen als auch die großen Errungenschaften des Landes unter einen Hut bringen.

Südstaaten, Sklaverei und Sezession

In den Südstaaten scheint genau das besonders schwer zu sein. Schon früh nach der Niederlage der Konföderation im Sezessionskrieg (1861-1865) entstand der „Lost Cause“-Mythos. Demnach sei mit dem Verbot der Sklaverei nach dem Sezessionskrieg auch ein großer Teil der Südstaatenkultur verloren gegangen. Für viele kam die Sklavenbefreiung damit dem Verlust des eigenen Southern Way of Life gleich. Eine inklusive Erinnerungskultur müsste also die den Südstaaten eigene Kultur und Identität erhalten, diese aber allen gleichermaßen zugänglich machen.

Auf einer Reise durch die Südstaaten von Virginia bis Florida konnte ich selbst erleben, wie schwierig das auch heute noch ist. Konföderierten-Denkmäler „schmücken“ immer noch die Promenaden von Charleston. In den Carolinas reiht sich ein Golfplatz an den nächsten, während viele Menschen unter schlechter Gesundheitsversorgung leiden und keinen bezahlbaren Wohnraum finden. Und obwohl die „Rassentrennung“ schon vor Jahrzehnten offiziell aufgehoben wurde, ziehen sich immer noch unsichtbare Trennlinien durch alle Bereich des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Schwarze leben meist in den heruntergekommensten Stadtteilen mit hoher Kriminalität und wenig Chancen auf Bildung und gutbezahlte Arbeit. Diese Gemengelage legt nahe, dass nur ein geringes Interesse an der Aufarbeitung der Vergangenheit und der Verbesserung der Gegenwart besteht.

Gibt es also Zukunftsaussichten für eine inklusive Erinnerungskultur in den Südstaaten? Aktuell lässt die gesellschaftliche Spaltung in den gesamten USA eher das Gegenteil vermuten. Angesichts der anhaltenden Probleme scheint ein positives Miteinander nur schwer möglich zu sein. Dabei ist genau das die einzige Chance für die Südstaaten, um nicht noch weiter abgehängt zu werden. Mit Mississippi und Louisiana belegen zwei Südstaaten die ersten beiden Plätze im Ranking der Bundesstaaten mit der höchsten Armutsquote. Nur wenn sich alle Bevölkerungsteile darauf einigen können, dass dieser Zustand gemeinsam überwunden werden muss, besteht Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Ohne eine identitätsstiftende Erinnerungskultur ist das jedoch nur schwer vorstellbar.

Was machen wir besser in Europa? Was müssen wir noch lernen?

Eine solche Wir-gegen-die-Mentalität gibt es bei uns glücklicherweise nicht in dem Maße wie in den Vereinigten Staaten. Dennoch haben auch europäische Länder dunkle Kapitel in ihrer Geschichte, die aufgearbeitet werden müssen. Sei es der Kolonialismus, der Holocaust oder andere Formen von Unterdrückung und Ausbeutung. Eine inklusive Erinnerungskultur beinhaltet, diese Vergangenheit anzuerkennen, Verantwortung zu übernehmen und Lehren daraus zu ziehen. Es erfordert den Mut, sich mit den eigenen Fehlern auseinanderzusetzen und einen offenen Dialog darüber zu führen.

Europa kann aus den Erfahrungen der USA lernen, wie wichtig es ist, eine inklusive Erinnerungskultur zu fördern. Das bedeutet, dass alle Bevölkerungsgruppen ihre Geschichten und Perspektiven einbringen können und dass die Vielfalt der europäischen Gesellschaft gewürdigt wird. Es erfordert die Bereitschaft, die dunklen Seiten der Geschichte anzuerkennen und in Bildungssystemen, Gedenkstätten und öffentlichen Diskursen Raum für Reflexion und Dialog zu schaffen.

Insgesamt ist die Aufarbeitung der dunklen Kapitel der Geschichte ein wichtiger Schritt, um als Gesellschaft zusammenzuwachsen und aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Das Beispiel der USA und insbesondere der Südstaaten zeigt, wie gefährlich es ist, das nicht zu tun. Nicht ohne Grund werden die Vereinigten Staaten daher von kritischen Stimmen als „Land ohne Erinnerungskultur“ bezeichnet. In Europa kann davon nicht die Rede sein. Beispiele wie die deutsche Aufarbeitung des Holocausts zeigen, dass diese Prozesse kompliziert, aber extrem wichtig sind. Nur durch solche Anstrengungen können wir eine inklusive Erinnerungskultur schaffen, die die Vielfalt unserer Gesellschaft anerkennt und auf dem Weg zu einer besseren Zukunft voranschreitet.

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