Wladimir Putin selbst verkündete die Vereinbarung zwischen den beiden Kriegsparteien. Aserbaidschan und Russland sind nicht die alleinigen Gewinner: Durch das Einschleusen syrischer Söldner in dem Konflikt hat die Türkei den Krieg erheblich vorangetrieben. Vor allem ist Armenien nicht allein auf der Seite der Besiegten. Frankreich, die USA und die Vereinten Nationen (UN) über die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) waren von den Friedensverhandlungen ausgeschlossen worden, obwohl sie 1994 den vorherigen Waffenstillstandsprozess an der Seite Russlands anführten.
Die Wiederaufnahme des Konflikts um die Kontrolle von Bergkarabach
Ein kurzer historischer Rückblick ist notwendig, um die Beziehung zwischen den Kriegsparteien zu verstehen. Bergkarabach ist eine Enklave im Südkaukasus zwischen Armenien und Aserbaidschan. Während der Sowjetzeit wurde das Gebiet zunächst an Aserbaidschan angegliedert, bevor es 1988 den Status einer sozialistischen Sowjetrepublik erhielt. Die Situation verschlechterte sich 1991 mit dem Zusammenbruch der UdSSR und der Unabhängigkeit Armeniens und Aserbaidschans. Im September 1991 proklamierte die Nationalversammlung von Bergkarabach die Unabhängigkeit des Landes, was von Aserbaidschan abgelehnt wurde. Die aserbaidschanische Regierung schickte Truppen, um die Kontrolle über die Region wiederherzustellen. Daraufhin beschloss Armenien, die Sezessionsbewegung zu unterstützen und marschierte in Aserbaidschan ein. Dieser Konflikt, der besonders vielen Zivilist*innen das Leben kostete, verstärkte die schlechten Beziehungen zwischen Armenien und Aserbaidschan.
1994 wurde durch die Unterstützung Minsker Gruppe der OSZE ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet. Die Minsker Gruppe agiert unter dem gemeinsamen Vorsitz von Frankreich, Russland und den Vereinigten Staaten. Mit diesem Abkommen wurde Bergkarabach ein unabhängiger De-facto-Staat, der von der internationalen Gemeinschaft nicht anerkannt und von Armenien militärisch unterstützt wird. Am 27. September 2020 brach Aserbaidschan den Waffenstillstand und startete eine Offensive gegen Bergkarabach. In nur sechs Wochen überwältigte die aserbaidschanische Armee die in der Enklave stationierten armenischen Separatistenkräfte. Das Debakel nahm am 8. November mit der Ankündigung des aserbaidschanischen Präsidenten Gestalt an, die Festung Schuschi einzunehmen, die zweitgrößte Stadt in Bergkarabach und ein ebenso strategisches wie symbolisches Militärziel. Am 10. November bestätigte der armenische Premierminister die Unterzeichnung eines neuen „schmerzhaften“ Abkommens mit Aserbaidschan.
Das neue Waffenstillstandsabkommen sieht vor, dass die kriegführenden Parteien die Gebiete behalten, die sie zum Zeitpunkt seiner Unterzeichnung besetzt halten. Damit gewinnt Aserbaidschan die Stadt Schuschi und sieben Bezirke zurück, die 1994 verloren gingen. Der Status der selbsternannten Republik ist noch nicht geklärt, während Armenien den Zugang zum strategisch wichtigen Latschin-Korridor behält, der es mit der Enklave verbindet. Vor allem aber markiert das Abkommen die Rückkehr der russischen Vorherrschaft im Kaukasus.
Moskau gewinnt die Kontrolle zurück
Das von Moskau unterstützte Waffenstillstandsabkommen ist eine Erinnerung an den russischen Einfluss in der Region. Das Dokument ignoriert die Minsker Gruppe und ihre Ko-Vorsitzenden komplett und verankert Russland als alleinigen Schiedsrichter in dem Konflikt.
Wenige Wochen zuvor wurde die Autorität Russlands jedoch missachtet. Bereits am 10. Oktober hatte Moskau versucht, einen Waffenstillstand zwischen den beiden Kriegsparteien zu verhandeln, ohne Erfolg, denn die Kämpfe wurden nur wenige Stunden nach dessen Unterzeichnung wieder aufgenommen.
Russland konnte diesen anfänglichen Rückschlag überwinden und scheint nun der einzige Garant für die Einhaltung des Waffenstillstands und die Stabilität in der Region zu sein. Bergkarabach wird in Zukunft unter dem Schutz von 2000 russischen Soldaten existieren, die in die von Armenien zurückeroberten Gebiete, insbesondere um den Latschin-Korridor, entsandt werden. Diese Soldaten haben bereits mit ihrem Einsatz in Aserbaidschan begonnen. Aserbaidschan ist eigentlich der letzte Staat im Kaukasus, in dem es noch keine russische Militärpräsenz gibt.
Eine geopolitische Prüfung
Letztlich betrifft die einzige Ungewissheit die Rolle der Türkei in Bezug auf den Verlauf und den Ausgang des Konflikts. Tatsächlich hat Ankara seit den ersten Wochen der Kämpfe seinen Einfluss im Kaukasus verstärkt, indem es mehr als 1500 syrische Söldner an der Seite der aserbaidschanischen Armee eingesetzt hat. Es ist nicht das erste Mal, dass Recep Tayyip Erdogan auf diese Milizen zurückgreift. Sie haben bereits im Herbst 2019 gegen die Kurd*innen in der Region Rojava gekämpft, wo sie sich mehrfacher Übergriffe auf kurdische Zivilist*innen schuldig gemacht haben, die von der UN verurteilt wurden: Kriegsverbrechen wie Geiselnahme, Folter, Hinrichtungen im Schnellverfahren, Vergewaltigungen in Afrin [Nordwestsyrien] und den umliegenden Dörfern.
Dies verhinderte nicht die Teilnahme dieser Soldaten an der Verteidigung von Tripolis gegen die Truppen von General Haftar im Frühjahr 2020 und dann an der Invasion von Bergkarabach. Die Truppenverlegungen sind Teil einer expansionistischen Militärpolitik des türkischen Präsidenten. Sicher ist, dass Erdogan versuchen wird, den Sieg Aserbaidschans maximal auszunutzen, um die Präsenz der Türkei im Kaukasus - vor den Toren Russlands - zu stärken. Obwohl die Türkei im Friedensabkommen nicht erwähnt wird, hat die türkische Regierung angedeutet, dass sie „durch ein gemeinsames Zentrum mit Russland Beobachtungs- und Überwachungsaktivitäten [des Waffenstillstands] durchführen wird, das an einem von Aserbaidschan auszuwählenden Ort eingerichtet wird“, ein symbolischer Sieg für Ankara.
Während Russland und die Türkei keinen Hehl aus ihren Ambitionen im Kaukasus machen, scheinen die Westmächte ihren Einfluss in der Region endgültig aufgegeben zu haben. Die Minsker Gruppe der OSZE wurde zum alleinigen Nutzen Russlands beiseitegeschoben, ohne dass es in Europa oder den Vereinigten Staaten zu einem Aufruhr kam. Josep Borrell, der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, forderte am 28. September lediglich „eine sofortige Einstellung der Feindseligkeiten, eine Beruhigung der Spannungen und eine strikte Einhaltung des Waffenstillstands“ und betonte „die Dringlichkeit der Wiederaufnahme von Verhandlungen über eine Beilegung des Bergkarabach-Konflikts“. Auch US-Außenminister Mike Pompeo vervielfachte die Rufe nach einem Waffenstillstand und erklärte am 23. Oktober, dass „der richtige Weg darin besteht, den Konflikt zu beenden, ihnen zu sagen, dass sie die Spannungen abbauen sollen, dass sich jedes Land heraushalten soll“.
Die Strategie der EU: zwischen Dialog und Verurteilung
Seitdem hat es keine wirkliche Verurteilung Russlands und der Türkei gegeben, obwohl sie in den Konflikt verwickelt sind. In der Tat haben beide Länder einen Waffenstillstand ohne den Westen ausgehandelt. Zwar stellten sich einige europäische Staats- und Regierungschef*innen hinter Emmanuel Macron, um die Aggression Aserbaidschans und die Entsendung von „dschihadistischen Gruppen“ an die Seite Aserbaidschans zu verurteilen.
Mehrere europäische Staaten - vor allem Deutschland - zogen es jedoch vor, den Dialog mit der Türkei zu suchen, anstatt die europäischen Länder gegen die Türkei zu unterstützen. Die Unterstützung Griechenlands und Italiens reichte dem französischen Präsidenten nicht aus, um Einfluss auf den Ausgang des Konflikts zu erlangen. Das konkurrierende Zusammenspiel zwischen Russland und der Türkei führte zu ihrer Hegemonie im Kaukasus bei gleichzeitiger Schwächung des Westens.
Heute muss es eine Priorität der EU sein, die russisch-türkische Entente im Kaukasus und im östlichen Mittelmeerraum zu überwinden. Wie bei der Ukraine-Krise oder jüngst beim Aufgeben der Kurd*innen in Syrien muss bewusst gemacht werden, dass die Erwähnung „kultureller und historischer Verbindungen“ zu Europa und die bloße Aufforderung, den Waffenfluss in die Konfliktgebiete einzudämmen ohne jegliche Kontrolle, nicht ausreichen, um in diesen Regionen Einfluss zu behalten. Sich auf die USA zu verlassen, ist nach Donald Trumps Nichtinterventionismus keine Option mehr.
Nachdem Armenien vonseiten Russlands im neuerlichen Bergkarabach-Konflikt keine ausreichende Unterstützung erhalten hat, ist es wahrscheinlich, dass das Land sein Bündnisnetzwerk überdenken wird. (Armenien ist im Gegensatz zu Aserbaidschan Mitglied des von Russland geführten Militärbündnisses Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, dessen Aufgabe die Gewährleistung der Sicherheit, Souveränität und territorialen Integrität der Mitgliedstaaten ist). Tausende Armenier*innen haben zudem gegen das Friedensabkommen demonstriert und damit ihr Misstrauen gegenüber der russischen Schlichtung zum Ausdruck gebracht. So können Frankreich und die anderen europäischen Länder darauf hoffen, neue Partnerschaften mit Armenien aufzubauen und ihren Einfluss im Kaukasus nicht endgültig zu verlieren, vorausgesetzt, sie verdoppeln ihre Anstrengungen und definieren eine gemeinsame Außenpolitik. In dieser Hinsicht ist die armenische Diaspora in Frankreich eine echte Bereicherung. Emmanuel Macrons Entscheidung, humanitäre Hilfe an die Armenier*innen Bergkarabachs zu schicken, ist ein erster Schritt in die richtige Richtung.
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