Chinesische Internierung der Uigur*innen

Was 09/11 mit der heutigen Unterdrückung der Uigur*innen zu tun hat

, von  Lea Becker

Was 09/11 mit der heutigen Unterdrückung der Uigur*innen zu tun hat
Foto: Unsplash / Überform / Unsplash Lizenz Überwachungskameras, digitale Überwachung und Umerziehungslager: Die totale staatliche Kontrolle Pekings scheint kaum Grenzen zu kennen. Die EU sollte klare Grenzen aufzeigen.

Weltweit riefen Menschen zum Boykott der „Mulan“-Neuverfilmung auf, da die Dreharbeiten im Xinjiang in unmittelbarer Nähe der Umerziehungslager für Uigur*innen stattgefunden haben sollen. Obgleich diese Internierung von chinesischen Medien heruntergespielt wird, ist dennoch klar, dass sie einen Angriff auf menschliche Grundrechte darstellen, der die Welt in Alarmbereitschaft setzen sollte.

Uigurische Stimmen zeigen seit Jahrzehnten die Missstände auf

Am 18. Dezember 2019 findet sich im Plenarsaal des Europäischen Parlaments in Straßburg eine bunt gemischte Gruppe von Menschen ein. Viele Reporter*innen sind darunter, David Sassoli, der Präsident des Parlaments, sowie eine junge Frau namens Jewher Ilham. Jewher hat sich ihr Leben in Indiana aufgebaut, sie ist als Menschenrechtsaktivistin tätig und hat ein Buch geschrieben. Man könnte meinen, dass eine so junge Frau aus Interesse bei der Verleihung des „Sacharow-Preises für geistige Freiheit“ teilnimmt, doch Jewher hat an diesem Tag keine Nebenrolle. Sie ist es, die den Preis, den das Europäische Parlament jedes Jahr an Personen und Organisationen mit außerordentlichem Einsatz für Menschenrechte und Grundfreiheiten verleiht, im Jahre 2019 entgegennimmt. Doch nicht sie ist die Preisträgerin. Jewher Ilham erhält den Sacharow-Preis im Namen ihres inhaftierten Vaters.

Ilham Tohti ist ein uigurischer Wirtschaftswissenschaftler, der an der Minzu-Universität in Peking die soziale Ungleichheit zwischen Uigur*innen und Han-Chines*innen in seiner Heimatprovinz Xinjiang untersuchte. Seine Appelle an die chinesische Regierung, die Verständigung der beiden Ethnien zu verbessern spiegelte er auch auf der Website „Uyguhr online“, die er im Jahre 2006 ins Leben rief. Zwei Jahre später wurde die Seite gesperrt und ihr Gründer von chinesischen Behörden festgenommen. Auch 2009 verhaftete man Ilham Tohti unter dem Vorwurf, Proteste im Xinjiang anzufachen, er wurde jedoch auf europäischen Druck hin freigelassen. Dieser Druck änderte jedoch nichts daran, dass er sich nun seit 2014 in lebenslanger Haft für Separatismus und Anstiftung zum Rassenhass befindet und seine Tochter heutzutage nicht weiß, wo er festgehalten wird. Was dieser Mann jedoch bleibt ist ein Symbol der Hoffnung, eine Stimme der Versöhnung, ein Sprecher für eine unterdrückte Minderheit. All dies brachte ihm ihn auch den Sacharow-Preis ein.

Doch in welcher Situation befindet sich diese Minderheit heute? Welches Schicksal ereilt Uigur*innen im Xinjiang im Osten Chinas?

Die heutige Situation: immer größere Schatten auf die Freiheit

Ein Polizeistaat: Handykontrollen, Gesichtserkennung, Durchsuchungen im Bus und im Supermarkt. Das Leben unter Überwachung legt seine Schatten auf die Freiheit und die Freude der Menschen. Die leise lauernde Drohung, in ein Umerziehungslager geschickt zu werden, erzeugt vor allem eines: Angst. Es existieren ungefähr 100 derartiger Lager, die offiziellen chinesischen Reportagen zufolge einen Ort für professionelle Ausbildungen, eine Beherbergung in sauberen, einladenden Gebäuden und eine Sprachschule für Mandarin bieten. Doch seit Ende 2017 interessieren sich mehr und mehr Reporter für die Region und konstruieren dabei ein völlig anderes Bild der Realität.

Der junge Han-Chinese Shawn Zhang, der in Kanada lebt, war der erste, dem es gelang, mithilfe von Satellitenbildern eine Karte der Lager zu erstellen, die es möglich machte, über 100 von ihnen zu lokalisieren. Die herrschenden Bedingungen sind grotesk. Kleine, überbevölkerte Zimmer, Wasser-, Hygiene und Nahrungsmangel. Und dann ist da vor allem eines: Gehirnwäsche. Die Uigur*innen werden gezwungen, die chinesische Hymne zu singen. Wenn sie sich weigern bekommen sie kein Essen oder erhalten eine Strafe. Sie schauen Propagandavideos. Von ihnen wird erwartet der Kommunistischen Partei Chinas, dem Land und Xi Jinping ihre Treue zu schwören und auf ihre Religion und Sprache zu verzichten. Wer in diese Lager geschickt wird? Jeder, der sich verdächtig macht, ob durch die Ausübung seiner Religion, durch die Infragestellung politischer Strukturen wie im Falle Tohtis oder durch Reisen ins Ausland. Es kann aber auch reichen, ein Telefon in einem anderen zu besitzen. Es gibt keine Kriterien, es handelt sich um reine Willkür.

Wie kam es dazu, dass die Ethnie, die in der Provinz über die Hälfte der Bevölkerung ausmacht, derart unterdrückt wird?

Unterdrückung immenser Menschenmassen

Historisch gesehen, unterhalten Uigur*innen eher Verbindungen zu Zentralasien als zu China, da ihre Region erst im 16. Jahrhundert in den chinesischen Staat integriert wurde. Seit 1955 erlaubte ihr Autonomiestatus den chinesischen Muslimen die Ausübung ihrer Sprache, jedoch keinerlei politische Autonomie. Die zentrale chinesische Regierung sah die strategische Bedeutung des Xinjiang mit seiner Grenze zu acht Ländern, seiner Lage auf der Neuen Seidenstraße sowie seinem Ressourcenreichtum und machte es sich zum Ziel, die Region der chinesischen Sprache und Kultur anzupassen.

Seit 50 Jahren verwaltet das Xinjiang Produktions- und Konstruktions-Corps das wirtschaftliche Leben, komprimiert soziale und nationalistische Forderungen der Uigur*innen und überwacht die Grenzen zum Westen Chinas. Diese einzigartige Wirtschafts- und Paramilitärorganisation ist es, die darüber hinaus den massiven Anstieg der Han-Immigranten kanalisiert. Somit ist die Population der Han-Chinesen in der Provinz von 7% im Jahre 1949 aber über 40% heute angestiegen. Und so setzte sich die Politik der Kolonialisierung in Kraft: chinesische Kontrolle einer den chinesischen Werten unangepassten Region. Doch die von außen erzwungenen Veränderungen einer Region, die von ihren eigenen Vorstellungen geprägt war, stieß auf Widerstand. Mehr und mehr entwickelten Uigur*innen nationalistische und separatistische Gefühle und so kam es in den 80er-Jahren vermehrt zu Demonstrationswellen.

Mit der Auflösung der Sowjetunion und der Unabhängigkeit zentralasiatischer Republiken erstarkte der Nationalismus und es bildeten sich zunehmend Verbindungen mit Uigur*innen des Auslands. Der Islam in China revitalisierte sich. Derweil waren Uigur*innen im Xinjiang einer immer härter werdenden Repressionspolitik ausgesetzt: massive Immigration der Han-Chinesen, Verbote religiöser und kultureller Praktiken, wirtschaftliche Ausbeutung, die zu ethnischen Spannungen führte, sowie die Institutionalisierung der chinesischen Sprache als Basis der vollständigen kulturellen Anpassung. Menschen schrieen nach Freiheit und bekamen als Antwort Unterdrückung. Es ist wenig verwunderlich, dass diese Politik eine kontraproduktive Wirkung hatte und die verzweifelten Uigur*innen, die in ihrer Region zunehmend zu Ausländer*innen wurden, zur Radikalisierung anstachelte.

Ein willkommener Vorwand für Massenunterdrückung

11. September 2001: vier koordinierte Flugzeugentführungen mit anschließenden Selbstmordattentaten, der Einbruch des brennenden World Trade Centers und fast 3.000 Tote durch die Anschläge des islamistischen Terrornetzwerkes Al-Qaida. Eine internationale Tragödie, die die Gefahr des Terrorismus ein für alle Mal auf die politische Agenda setzte. Für China ein willkommener Anlass, vermeintliche Separatist*innen zu unterdrücken, ohne Gefahr zu laufen, Protest der internationalen Gemeinschaft auszulösen. Es war die perfekte Vorlage, Uigur*innen als Terrorist*innen zu stigmatisieren, ohne dabei zwischen terroristischem Islamismus und dem Nationalismus einer Ethnie zu differenzieren. Im Jahre 2015 schreiben die lokalen Autoritäten der Region die „Deradikalisierung“ in ihrer Legislation fest. Ein Jahr später wird eine beispiellose Kampagne der Umerziehung in Gang gesetzt. Damit war der Grundstein für 100 Umerziehungslager gelegt.

Seit dem Aufstieg der Kommunistischen Partei Chinas dient jeglicher nationalistische Diskurs der Legitimation ihrer repressiven Politik. Das Nationsbestreben der Uigur*innen steht dieser als Hindernis im Wege. Überwachungskameras, ein Mangel an freiem Journalismus, die Infragestellung der begrenzten Freiheiten Hongkongs: die fortlaufende Normalisierung repressiver Praktiken findet sich überall wieder. Der Xinjiang mit seinem Überwachungssystem jedoch, dem intrusivsten der Welt, verbunden mit der Gefangenschaft von über einer Million Menschen, die einer erzwungenen Indoktrinierung unterworfen werden, liefert den Höhepunkt.

Das aktuelle chinesische Regime legt nicht mehr den puren, harten Autoritarismus an den Tag, den es noch in Maos Ära gab. Von einer Demokratisierung ist das Land jedoch weit entfernt. Der französische Wissenschaftler Paul André schreibt, die „totalitäre Ambition“ des Regimes, jegliche Entwicklungen horizontaler Verbindungen zwischen Zivilbürgern zu verhindern, um die direkte und vertikale Kontrolle zwischen der Partei und der Population zu wahren, bleibt intakt. Für die Uigur*innen hat dies vor allem eine Bedeutung: die Unmöglichkeit, ihre eigene Geschichte zu schreiben.

Doch was bedeutet dies für Europa? Ist es nicht das genaue Gegenteil, für das die Europäische Union steht? Wie steht es um die europäische Verantwortung?

Chinas wirtschaftlicher Erfolg wird zur ideologischen Gefahr

Je erfolgreicher China wirtschaftlich wird, desto erfolgversprechender wirkt die diktatorische Natur auf andere Länder, die mehr und mehr dem Autoritarismus verfallen. Andere lassen sich durch das Projekt der Neuen Seidenstraße von China erkaufen. Auch wirtschaftlich gesehen unterhalten europäische Staaten derart unterschiedliche Beziehungen mit China, dass es sich schwierig gestaltet, einen soliden Konsens zwischen ihnen zu finden.

Dennoch wird es immer klarer, dass die chinesische Regierung Menschenrechte verletzt. Mit der Verleihung des Sacharow-Preises 2019 bezieht die Europäische Union klar Stellung. Sie spricht sich für einen inhaftierten Menschrechtsaktivist aus und denunziert das Vorgehen Chinas gegenüber den Uigur*innen. Auch heute kommen von Europa im Kontext der Rechte Hong-Kongs klare Aufforderungen, wie von dem deutschen Außenminister Heiko Maas, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu wahren.

Doch reichen Aufforderungen, freundliche Bitten und die Einladung zum höflichen Diskurs? Wenn sie reichen würden, warum kämpft Jewher Ilham noch immer für die Freilassung ihres Vaters, warum wehren sich die Tibeter gegen kulturellen Genozid und warum halten in Hongkong die Massenproteste weiter und weiter an?

Eine europäische Pflicht

All dies sind klare Zeichen, dass Diplomatie nicht mehr genügt. Es braucht ein geeintes Europa, um geschlossen gegen die Unterdrückung anzukämpfen. Es braucht europäische Spitzenpolitiker*innen, die sich die Bedeutung der Menschenrechte für die Europäische Gemeinschaft und ihre Verantwortung der globalen Gemeinschaft gegenüber ins Gedächtnis rufen. Es braucht die Bereitschaft, den Handel nicht als wichtiger als die Rechte eines jeden anzusehen und wirtschaftliche Sanktionen in Betracht zu ziehen. Es ist wichtiger denn je, den Angriff der chinesischen Regierung auf das internationale Menschenrechtssystem abzuwehren. Menschenrechte sind individuell, sie sind universell, sie sind unveräußerlich, sie sind angeboren, sie sind nichtdiskriminierend und sie sind unteilbar. Chinas Strategie, die Einhaltung der Gesamtheit dieser Prinzipien zu missachten, bis ihre Entwicklung weit genug vorangeschritten ist, steht unseren europäischen sowie internationalen Grundwerten, die in der UN-Charta festgeschrieben sind, diametral entgegen. Auch andere, auch europäische Länder sind nicht perfekt, doch Jahrzehnte des Fortschritts in diesem Gebiet stehen auf dem Spiel und die Zukunft unserer Welt ebenso. Die Europäische Union hat eine Verantwortung und sie sollte sich ihrer annehmen.

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