Westbalkan meets EU: Willkommen oder Wartezimmer?

, von  Bild/Güz, Leander Sajdowski, Rebecca Rose, Tom Krejci

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Westbalkan meets EU: Willkommen oder Wartezimmer?
Nicht nur auf der Ebene der europäischen Parteien, sondern auch in der Bevölkerung lassen sich verschiedene Positionen zur Beitrittsperspektive des Westbalkans wiederfinden. Foto: Flickr | Naval S | CC BY-NC 2.0

Der Traum von einem vereinten Europa: Für die Länder des Westbalkans könnte dieser Traum bald Wirklichkeit werden. Mit Nordmazedonien als Wegbereiter, das bereits 2004 seinen Beitrittsantrag stellte, sind die Staaten dieser Region auf einem intensiven Reformkurs, um die strengen Kriterien der Europäischen Union zu erfüllen. Doch der Weg zur Mitgliedschaft ist steinig und verlangt tiefgreifende Veränderungen.

Warum ist dieser Prozess gerade jetzt so relevant? In einer Zeit, in der die EU vor geopolitischen Herausforderungen und internen Spannungen steht, könnte die Integration der Westbalkanstaaten nicht nur für Stabilität und Sicherheit in Europa sorgen, sondern auch neue wirtschaftliche und kulturelle Impulse bringen. Doch wie genau sieht der Beitrittsprozess aus? Wie stehen die Parteien des Europäischen Parlaments zu einer Erweiterung Europas? Und was denkt die Bevölkerung zu dem Thema?

Wie sieht der Beitrittsprozess aus?

1. Interessensbekundung und Antragstellung Ein Land, das der EU beitreten möchte, muss zunächst sein Interesse an einem Beitritt offiziell bekunden und einen Antrag auf Mitgliedschaft beim Rat der Europäischen Union stellen. Nordmazedonien war der erste Westbalkanstaat, der 2004 solch einen Antrag stellte.

2. Kandidatenstatus Anschließend prüft der Rat der Europäischen Union den Beitrittsantrag und entscheidet, ob das Land die grundlegenden Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft erfüllt. Dazu zählen politische Stabilität und die Bereitschaft wirtschaftliche und politische Reformen durchzuführen. Wenn der Rat feststellt, dass das Land potenziell beitrittsfähig ist, wird ihm der offizielle Status eines Beitrittskandidaten verliehen. Diesen Status haben seit 2005 bis 2014 inne: Nordmazedonien, Montenegro, Serbien, Albanien. Anders sieht dies für Bosnien und Herzegowina und den Kosovo aus. Beide Länder stellten bereits Anträge auf eine Mitgliedschaft, doch während Bosnien und Herzegowina mit einer starken innenpolitischen Fragmentierung und institutionellen Schwächen zu kämpfen hat, steht dem Kosovo das Urteil von fünf EU-Mitgliedsstaaten im Weg, die die Unabhängigkeit des Landes nicht anerkennen.

3. Vorverhandlungen und Screening Sobald ein Land den Kandidatenstatus erreicht hat, führt die Europäische Kommission eine detaillierte Analyse der Rechtsvorschriften und institutionellen Strukturen des Kandidatenlandes durch, um die Übereinstimmung mit den EU-Standards zu bewerten. Dieser Prozess wird „Screening“ genannt. Das Kandidatenland muss bereits in dieser Phase beginnen, seine Gesetze und Institutionen an die EU-Standards anzupassen. Dabei erhält es finanzielle und technische Unterstützung von der EU, die das Kandidatenland bei den notwendigen Reformen unterstützt. Das Ziel ist hierbei, dass das Kandidatenland die sogenannten Kopenhagen Kriterien erfüllen kann. Dazu zählen die Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und auch eine stabile und funktionierende Marktwirtschaft. Im Rahmen dieses Prozesses verabschiedete Serbien zum Beispiel Reformen zur Stärkung der Medienfreiheit und Unabhängigkeit, in Form neuer Mediengesetze und der Förderung eines pluralistischen Medienumfelds. Albanien führte unter anderem marktwirtschaftliche Reformen ein, darunter die Privatisierung staatlicher Unternehmen und die Schaffung eines wettbewerbsfähigen Geschäftsumfelds.

4. Beitrittsverhandlungen Sobald ein Land die Kopenhagen Kriterien erfüllt, beginnen die eigentlichen Beitrittsverhandlungen. Die Verhandlungen werden in 35 Verhandlungskapitel unterteilt, die verschiedene Politikbereiche abdecken, darunter beispielsweise die Bereiche Justiz, Umwelt und Wirtschaft. Jedes Kapitel wird einzeln verhandelt. Das Kandidatenland muss zeigen, dass es die erforderlichen EU-Standards in jedem Bereich erfüllt. Nachdem alle Kapitel erfolgreich verhandelt wurden, stellt eine umfassende Bewertung sicher, dass das Kandidatenland alle erforderlichen Reformen und Anpassungen durchgeführt hat.

5. Unterzeichnung des Beitritt Vertrags Daraufhin wird ein Beitrittsvertrag ausgearbeitet, der die Bedingungen des Beitritts und die Verpflichtungen des neuen Mitglieds festlegt. Dieser Vertrag muss von den Parlamenten aller EU-Mitgliedstaaten und dem Parlament des beitretenden Landes unterzeichnet werden. In einigen Ländern kann dies eine Volksabstimmung erfordern. Zusätzlich muss das Europäische Parlament dem Beitrittsvertrag zustimmen.

6. Beitritt zur EU Sind all diese Schritte erfolgreich durchlaufen, tritt das Land zu einem festgelegten Datum offiziell der EU bei und wird vollwertiges Mitglied.

Wie stehen die europäischen Parteien zu einer Erweiterung der EU?

Jean-Claude Juncker der Europäischen Volkspartei setzte sich in seiner Rede zur Lage der Union 2017 für eine realistische Beitrittsperspektive der Westbalkanstaaten ein, jedoch nicht für eine schnelle Mitgliedschaft. Er versicherte, dass die Europäische Union in der Zukunft mehr als 27 Mitgliedsstaaten umfassen würde.

Ende 2023 äußerte sich die Präsidentin des Europäischen Parlaments, Roberta Metsola, zu der Beitrittsfrage. Sie setzte sich für mehr Zusammenarbeit mit den Westbalkanstaaten gegen außereuropäische Einmischung, Desinformation und Informationsmanipulationen ein. Letztere bedrohen laut Metsola die Stabilität der gesamten Region und die Grundlagen der europäischen Demokratie.

Die Positionen der europäischen politischen Parteien unterscheiden sich diesbezüglich. Die größte Partei im Europäischen Parlament, die Europäische Volkspartei (EVP), befürwortet insgesamt eine zukünftige Integration der Westbalkanstaaten, jedoch nur unter der Bedingung, dass die Kopenhagener Kriterien eingehalten werden. Manfred Weber erklärte in einer Rede Ende 2018, dass die Zusammenarbeit mit den Westbalkanstaaten eine der Prioritäten seiner Partei seien. Auch Renew Europe, die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE) und die Europäische Grüne Partei (EGP) setzen sich klar für eine Erweiterung der Union ein, allerdings mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Renew Europe und die SPE möchten vor allem Länder unterstützen, die klare Fortschritte bei demokratischen und sozialen Reformen erzielen. Die SPE legt dabei einen besonderen Wert auf die Einhaltung sozialer Kriterien, während Renew Europe eher die wirtschaftliche Entwicklung in den Vordergrund stellt. Die europäischen Grünen gehen das Thema mit einem besonderen Fokus auf Umweltkriterien und Menschenrechte an.

Die rechtsaußen positionierten Parteien, die Identität und Demokratie Partei (IDP) und die Europäische Konservative und Reformer (EKR), haben eine eher kritische Haltung gegenüber einer möglichen Erweiterung der EU in Richtung Westbalkan. Jordan Bardella von der französischen Partei Rassemblement National (RN), die Teil der IDP-Gruppierung ist, erklärte 2022, dass weder Frankreich noch die gesamte EU durch eine Integration Albaniens gestärkt würden. Bardella warnte vor albanischsprachigen Netzwerken in Frankreich und der EU. Die EKR ist aufgrund ihrer euroskeptischen und antiföderalistischen Ausrichtung grundsätzlich eher gegen eine Erweiterung der EU.

Was denkt die Bevölkerung?

Nicht nur auf der Ebene der europäischen Parteien, sondern auch in der Bevölkerung, bei den Wählenden, lassen sich verschiedene Positionen zur Beitrittsperspektive des Westbalkans wiederfinden. Dies liegt daran, dass die Erweiterungsfrage des westlichen Balkans ein kontroverses und komplexes Thema darstellt. Für diesen Artikel wurden am letzten Tag der Europawahl in der belgischen Hauptstadt Brüssel einige Menschen zu diesem Thema befragt. Vielen Befragten ist die Frage nach einem Beitritt der sechs Westbalkanländer bekannt, sie haben von der Debatte schon gehört, doch macht die große Mehrheit der befragten Personen deutlich, dass sie die Einzelheiten nicht kennen und über genaues Wissen dazu nicht verfügen. Im Kontext des Ukraine-Kriegs, des Israel-Gaza Konflikts und der Migrationsfrage, spielte für die meisten Befragten die Erweiterungsfrage dementsprechend auch keine große Rolle bei ihrer Stimmabgabe zu den EU-Wahlen.

Zur Frage eines Beitritts der Westbalkanstaaten zeigte sich, dass die Mehrheit der befragten Personen im Kontext von regionaler Stabilität, Europas Sicherheit und Wettbewerb durchaus positiv eingestellt sind. Vor allem die aktuellen Ereignisse rund um den russischen Überfall auf die Ukraine beschäftigt die Befragten und führt dazu, dass oft der Wunsch nach einer starken und vor allem großen Europäischen Union geäußert wird. Viele wünschen sich die EU als ein Bollwerk gegen russische oder chinesische Kräfte und halten eine Erweiterung der Union deshalb für vorteilhaft. Gleichzeitig machen die Menschen deutlich, dass sie einen von Regeln und Kriterien begleiteten Prozess für wichtig erachten. Mitunter werden kulturelle und ökonomische Bedenken genannt, da der Westbalkan teilweise als ökonomisch schwächer oder als fremd wahrgenommen wird. Es bleibt spannend, wie sich das Ringen auf politischer und gesellschaftlicher Ebene entwickeln wird: Bleibt es beim Wartezimmer oder wird es bald heißen: “Willkommen Westbalkan”?

Die Artikelserie Europawahl im Blick: Junge Stimmen aus Frankreich und Deutschland entstand im Rahmen des deutsch-französischen Wahlbeobachtungsseminars der Schwestervereine BILD-GÜZ. Während der Europawahl trafen sich fünf Tage lang junge Erwachsene aus Deutschland und Frankreich in Brüssel, um mit Akteuren des politischen Lebens Europas zu diskutieren und ihre Eindrücke in einer Reihe von Artikeln festzuhalten. Das Wahlbeobachtungsseminar wurde in Kooperation mit dem Deutsch-Französischen Jugendwerk, DokDoc.eu und dem Pressenetzwerk für Jugendthemen e.V. durchgeführt.

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