Westbalkan: Serbien zwischen Stabilität und Autoritarismus

, von  Arthur Molt

Westbalkan: Serbien zwischen Stabilität und Autoritarismus
Wirtschaftlich ist Serbien eng mit der Europäischen Union verknüpft. Im Bild die Innenstadt von Belgrad. author: Adam Olszanski / flickr / CC BY-NC 2.0

Mit neu eröffneten Verhandlungskapiteln bewegt sich Serbien weiter auf die EU zu. Präsident Vucic präsentiert sich als Fürsprecher für gesellschaftlichen Fortschritt und Garant für Stabilität. Die Kritik an seinem autoritären Amtsstil reißt nicht ab. Russland wird in der Bevölkerung nach wie vor als wichtiger Partner angesehen.

Gestern Abend wurden die Kapitel 7 und 29 in den Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und Serbien eröffnet. Innerhalb des gemeinsamen Besitzstandes oder aqcuis communautaire betreffen die Kapitel das Recht am geistigen Eigentum und die Zollunion. Damit sind 10 von 35 Verhandlungskapiteln inzwischen eröffnet.

„Wir sind einen langen Weg gegangen was die Europäische Integration anbelangt und um eine Gesellschaft zu schaffen, die anständiger und vielfältiger ist“, heißt es dazu in einer Erklärung von Serbiens Präsident Aleksandar Vucic. Während Vucic Erfolgsmeldungen in Bezug auf den EU-Beitritt verbreitet, vermissen Kritiker in Serbien angesichts von Wahlfälschungen, Einschränkungen der Pressefreiheit und Korruption bei ihm den nötigen Anstand.

Für Freitag ist eine pompöse Zeremonie anlässlich der Amtseinführung Aleksandar Vucics geplant. Die Vorwürfe über Manipulationen und Beeinflussung der Berichterstattung bei den Wahlen im April reißen unterdessen nicht ab.

Kurs auf die EU ohne die Verbindung nach Russland zu kappen

Bereits Vucics Vorgänger Boris Tadic (2004-2012) trieb die EU-Integration Serbiens voran. Gleichzeitig strebte er eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland an. Am 1. März 2012 wurde Serbien offiziell Betrittskandidat. Die ersten Beitrittsverhandlungen fanden im Januar 2014 statt.

Serbien ist wirtschaftlich stark mit der EU verflochten. Nach Deutschland und Italien steht Russland an dritter Stelle der wichtigsten Außenhandelspartner. Dies ist vor allem auf die Öl- und Gasimporte zurückzuführen. Nach der Privatisierung des staatlichen Energieunternehmens Naftna industrija Srbije (NIS) erwarb 2008 der russische Konzern Gazprom 51 Prozent der Anteile. Der Kaufpreis von 400 Millionen Euro lag dabei drei- bis fünfmal niedriger, als die meisten Analysten geschätzt hatten.

Die historische Freundschaft zwischen Serbien und Russland wird in der serbischen Politik immer wieder betont. Eine Studie des Belgrader Zentrums für Sicherheitspolitik zeigt, dass sich zwar eine Mehrheit der Serben für eine EU-Mitgliedschaft ausspricht, gleichzeitig die Beziehungen zu Russland als wichtig ansieht. Die EU-Mitgliedschaft wird mit einer besseren wirtschaftlichen Entwicklung in Verbindung gebracht, Russland wird vor allem als politische und militärische Macht angesehen.

Eine Mitgliedschaft in der NATO lehnt die Mehrheit der Befragten ab. Ein Drittel kann sich die Mitgliedschaft in der russischen Zollunion vorstellen, ein Fünftel spricht sich dagegen aus, die Mehrheit hat dazu keine Meinung. Wenn es darum geht den Kosovo anzuerkennen, um der EU beizutreten spricht sich eine Mehrheit gegen die EU-Mitgliedschaft aus.

Für Sicherheitsbedenken sorgt immer wieder das 2012 eingerichtete „serbisch-russische humanitäre Zentrum“ in der Stadt Nis. Es untersteht dem russischen Ministerium für Notsituationen und soll der Hilfe im Katastrophenfall dienen. Manche Beobachter sehen in dem nahe dem Flughafen eingerichteten Zentrum eine mögliche militärische Nutzung und vermuten, dass die Kommunikationstechnologie nicht der Koordination von Einsätzen im Katastrophenfall, sondern der Spionage dienen. NATO-Vertreter äußerten zuletzt auf Anfrage der WELT, sie seien nicht zu besorgt über das Zentrum, worum auch immer es sich handelte.

Ein allmächtiger Präsident, eine vorzeigbare Premierministerin

Der Umgang mit Minderheiten wird häufig als Lackmustest für die Rechtsstaatlichkeit in einem Land angesehen. Die Ernennung von Ana Brnabic als erster offen lesbischen Frau zur Premierministerin wurde deshalb von vielen europäischen Beobachtern als ein Signal des Fortschritts in Serbien gefeiert. Über die gesamtgesellschaftliche Akzeptanz sexueller Minderheiten sagt dies nur bedingt etwas aus.

In Bezug auf die Ernennung von Ana Brnabic spricht Koen Slootmaeckers von einer Instrumentalisierung, die nicht darüber hinwegtäuschen dürfe, dass zentrale Ansprechpartner im Kampf gegen Diskriminierung regelmäßig unter Druck stehen und das 2009 eingeführte Gesetz gegen Diskriminierung bisher kaum umgesetzt wurde.

Die als pragmatisch und pro-westlich geltende Brnabic hat keine Partei im Rücken, was ihre Aussichten, ein unabhängiges Gegengewicht zu Vucic darzustellen entschieden schmälert.

Einen Eindruck von Fortschritt und rechtsstaatlichen Reformen zu vermitteln liegt ganz im Interesse des immer wieder für seinen autokratischen Regierungsstil kritisierten Präsidenten Vucic. Die New York Times warnte EU-Vertreter davor, Regierungschefs wie Vucic als Kräfte der Stabilität anzusehen, wenn sie nicht ihre zentralen Werte verraten wolle.

Aleksandar Vucic hatte bei den Präsidentschaftswahlen Anfang April 55 Prozent der Stimmen erhalten. Kritiker werfen ihm Wahlmanipulation und eine Dominanz seiner Kampagne in den Medien vor. Seitdem gibt es immer wieder Proteste gegen Vucic. Die Demonstranten fordern eine Überprüfung der Wahllisten, den Rücktritt der Wahlkommission sowie von Vertretern aus dem öffentlichen Rundfunk. Auch in den privaten Zeitungen und Boulevardmagazinen zeigte sich vor der Wahl eine deutliche Dominanz Aleksandar Vucics. Wahlwerbung seiner Kampagne war auf den Titelseiten beinahe aller großen Tageszeitungen zu sehen. Die OSZE spricht in ihrem Bericht von einer „Selbstzensur“ der Presse aufgrund politischer und wirtschaftlicher Beeinflussung.

Medienberichten zufolge seien auf den Wahllisten bis zu 800.000 Menschen aufgeführt gewesen, die bereits verstorben sind. Bei 5,9 Millionen Wahlberechtigten wäre dies Wahlfälschung im großen Stil. Der älteste Wähler in Belgrad sei Jahrgang 1889 berichtete im April das Portal „Insajder“.

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