Ein Interview mit der deutschen Menschenrechtsbeauftragten

Wie Menschenrechte durch Institutionen gestärkt werden können

, von  Maximilian Hahn

Wie Menschenrechte durch Institutionen gestärkt werden können
Die Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe Dr. Bärbel Kofler im Interview. Foto: zur Verfügung gestellt von Susie Knoll.

In Deutschland engagiert sich von staatlicher Seite besonders eine Politikerin im Bereich der Menschenrechtspolitik: Dr. Bärbel Kofler. Sie ist Bundestagsabgeordnete und seit 2016 die Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe. Im Interview spricht Sie über die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) für den Menschenrechtsschutz.

Die Europäische Menschenrechtskonvention feierte im letzten Jahr ihr 70-jähriges Bestehen. Als die Menschenrechtskonvention am 4. November 1950 unterzeichnet wurde, lag das Ende des zweiten Weltkriegs und die damit einhergehende Beseitigung des nationalsozialistischen Regimes gerade einmal fünf Jahre zurück. Ein Krieg der Millionen Opfer forderte und ein Regime, das grundlegende Rechte vieler Menschen missachtete und darauf aufbauend die schlimmsten Verbrechen an ihnen beging. Europa lag nach dieser Zeit am Boden und die europäischen Staaten mussten richtungsweisende Entscheidungen treffen, wie sich das politische und gesellschaftliche Zusammenleben in Frieden und Wohlstand gestalten lässt.

Mehr über die Europäische Menschenrechtskonvention findest du hier!

Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ist einer der Grundpfeiler des Europarates. Die Konvention ist ein Übereinkommen, das dem Schutz der Menschenrechte und den Grundfreiheiten von Menschen dient. Der eigens dafür eingerichtete Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) überwacht diese festgeschriebenen Rechte. Die Konvention wurde im November 1950 in Rom unterzeichnet und trat im September 1953 allgemein in Kraft. Die EMRK zählt zu den sogenannten geschlossenen Konventionen. Sie kann also nur von Mitgliedsstaaten des Europarates sowie der Europäischen Union unterzeichnet werden. In den letzten 70 Jahren ihres Bestehens hat sich die Unterzeichnung der Menschenrechtskonvention zu einem Beitrittskriterium für Staaten entwickelt, die eine Mitgliedschaft im Europarat anstreben. Alle 47 Mitgliedsstaaten des Europarates haben sie unterzeichnet und ratifiziert. Sie bildet neben der Grundrechtecharta der Europäischen Union eine wichtige Grundlage für die Einforderung und Einhaltung von Menschenrechten auf dem europäischen Kontinent.

Die Europäische Menschenrechtskonvention hat essentiell zum Menschenrechtsschutz in Europa beigetragen und bietet mit dem Gerichtshof Bürger:innen eine direkte Möglichkeit, ihre individuellen Menschenrechte einzuklagen. Die Europäische Union als supranationale Organisation ist der Konvention jedoch noch nicht beigetreten. Ein Beitritt würde EU-Rechtsetzung verpflichtend an die Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention binden. Es entstünden somit neue individuelle Klagemöglichkeiten beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zur Durchsetzung von Menschenrechten. Dies hätte Auswirkungen auf sämtliche Politikfelder der Europäischen Union und würde bei aktuellen Ereignissen, beispielsweise bei der Debatte um den EU-Außengrenzschutz und dem Einsatz der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) neue Perspektiven eröffnen. Eine stärkere Institutionalisierung von Menschenrechten, wie beispielsweise durch Konventionen und eigenen Gerichten, führt zu einem stärkeren Mandat für Menschenrechtsverteidiger:innen und somit zu einer gerechteren Welt.

Welchen Wert hatte die Unterzeichnung der Europäischen Menschenrechtskonvention im Kontext der damaligen Geschehnisse aus Ihrer Sicht? Kann man sie als eine direkte Antwort auf die Gräueltaten des zurückliegenden Weltkrieges verstehen?

“Ich glaube, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, wie eben auch die Europäische Menschenrechtskonvention Ausfluss dieser Erfahrungen sind. Diese Dokumente schreiben eindeutig fest, welche Rechte jedem einzelnen Menschen als Individuum zustehen. Die damalige Frage war, was die Grundpfeiler und Grundwerte sind, an denen wir als Menschen festhalten müssen, um solche Gräueltaten in Zukunft zu verhindern. Das Spannende bei der Europäischen Menschenrechtskonvention im Zusammenhang mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist, dass diese Menschenrechte nicht nur beschrieben werden, sondern die Bürgerinnen und Bürger auch in die Lage versetzt werden, durch den Gerichtshof zu ihrem Recht zu gelangen. Somit wurde einklagbares Recht hergestellt. Das ist etwas, was in der damaligen Zeit sehr neu war und an dem wir heute immer noch arbeiten, um Menschenrechte für alle Realität werden zu lassen. Dies sind die wegweisenden Gedanken, die uns 70 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention aufzeigen.”

Sie erwähnten gerade schon den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dieser wurde im Jahre 1959 von den Mitgliedsstaaten des Europarates errichtet, um, wie Sie schon erwähnt haben, die in der Menschenrechtskonvention verankerten Grundrechte sicherzustellen.

Welche Rolle würden Sie dem Gerichtshof beimessen? Um auch auf die heutige Zeit einzugehen: Vor welchen Problemen steht die internationale Gerichtsbarkeit auf diesem Gebiet Ihrer Meinung nach?

“Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist von unschätzbarem Wert. Man sagt manchmal auch flapsig: Wenn es ihn nicht gäbe, dann müsste man ihn erfinden. Der Gerichtshof ist ein Herzstück des Menschenrechtsschutzes in Europa, weil er diese Klagemöglichkeit vorsieht. Es ist aber auch klar, dass erst einmal die einzelnen Staaten selbst dafür verantwortlich sind, ihren Bürgerinnen und Bürgern den nationalen Klageweg zu ermöglichen. Wenn das nicht funktioniert, gibt es die Möglichkeit, über diesen nationalen Klageweg hinaus Menschenrechte einzufordern. Als man Ende der 90er Jahre die Individualbeschwerden eingeführt hat, liefen zeitweise über 100.000 Verfahren. Das zeigt, wie wichtig es den Bürgerinnen und Bürgern ist, ihre individuellen Beschwerden vortragen zu können. Aber es gibt auch Probleme bei der Umsetzung: denn obwohl sich alle Mitgliedsstaaten verpflichtet haben, die Urteile des Gerichtshofes umzusetzen, tun sie dies leider nicht immer. Ein aktuelles Beispiel ist Russland, wo in der letzten Verfassungsreform ein Vorbehaltsrecht aufgenommen wurde, bei welchem das russische Verfassungsgericht prüft, ob Urteile des Gerichtshofs für Menschenrechte nachträglich abgelehnt werden können. Das ist in keiner Weise konform mit der Europäischen Menschenrechtskonvention. Diese „Rosinenpickerei“ widerspricht dem Grundgedanken der Konvention. Es ist eine politische und diplomatische Aufgabe, darauf zu drängen, dass Urteile umgesetzt werden und solche Vorgehensweisen keine Anerkennung finden.“

„Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist von unschätzbarem Wert. Man sagt manchmal auch flapsig: Wenn es ihn nicht gäbe, dann müsste man ihn erfinden.“

Als Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe gehört es zu Ihren Aufgaben, die aktuellen Entwicklungen im Bereich der Menschenrechte zu verfolgen sowie mit diversen Organisationen und Institutionen Kontakte zu pflegen. Sie haben angesprochen, dass man auf diplomatischem Wege versucht, gegen bestimmte Entwicklungen vorzugehen und darauf zu drängen, die Urteile umzusetzen.



Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Foto: Pixabay/hpgruesen/Lizenz


Wie gestaltet sich das konkret in ihrer alltäglichen Arbeit?

"Über ihre Rechtskraft hinaus besitzen diese Urteile ein moralisches Gewicht. Insofern ist es für mich wichtig, dass sie in den Gesprächen auf diplomatischer Ebene Konsequenzen haben. Die Urteile dienen mir persönlich als Linie, um bestimmte Forderungen erheben zu können, auch in der Öffentlichkeit. Ich verweise zum Beispiel auf den Fall von Osman Kavala in der Türkei, der seit mehreren Jahren in Untersuchungshaft sitzt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bereits im Dezember 2019 festgestellt, dass dies ein politischer Prozess ist und somit nicht mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar ist. Dies hat bisher leider nicht zu einer Freilassung geführt. Das Urteil des Gerichtshofs ist für mich eine hervorragende Basis, um eben die Einhaltung von Rechten zu fordern und mich auch für bestimmte Einzelfälle einsetzen zu können."

Ich würde nun noch auf die deutsche EU-Ratspräsidentschaft eingehen. Dort war ein Ziel, das Thema des EU-Beitritts zur Europäischen Menschenrechtskonvention wieder voranzubringen. Dies ist schon seit Jahren im Gespräch und wurde auch schon 2007 im Vertrag von Lissabon festgeschrieben. Vom Europäischen Gerichtshof wurde das allerdings wieder gekippt. Auch beim deutschen Vorsitz im Ministerkomitee des Europarates ist dies ein Thema.

Was ist der aktuelle Stand bei der Umsetzung dieses Ziels? Welche Veränderungen würden Sie erwarten, wenn die Europäische Union der Konvention als Mitglied beitritt?

„Ich bin mir nicht sicher, ob wir das in der Zeit unseres Vorsitzes im Ministerkomitee des Europarates vollständig zum Abschluss bringen werden. Aber trotzdem arbeiten wir daran, substanzielle Fortschritte zu erzielen. Der Vorteil eines Beitritts der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention wäre, dass sich die Rechtsetzung, die zunehmend auf EU-Ebene vorgenommen wird, an die Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention halten muss. Dies betrifft zum Beispiel Handelsfragen und die Ausgestaltung von Menschenrechtskapiteln in Handelsverträgen. Weiterhin hätte dies Einfluss auf Themen wie Migration und Überwachung der EU-Außengrenzen. So werden bei Menschenrechtsverletzungen, zum Beispiel bei Pushbacks auf dem See- und Landweg, Individualbeschwerden möglich. Das hätte einen großen Mehrwert, da wir dann auch in eine andere politische Debatte innerhalb der EU eintreten könnten. Ich würde das sehr begrüßen und hoffe, dass die EU der EMRK beitritt.“

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview ist bereits am 11.02.2021 auf dein-europarat.de erschienen. In Kooperation zwischen treffpunkteuropa.de und dein-europarat.de der Europäischen Akademie Berlin wird dieses Interview hier veröffentlicht.

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