Wir leben in einer Zeit der Krisen. Nicht nur die Euro- (oder respektive: die Finanz-, Banken-, Schulden-)Krise prägt Politik und Alltagsleben seit Jahren. Auch Güter, die wir lange sicher wähnten, sind bedroht. Menschen- und Bürgerrechte leiden in Europa. Massenüberwachung, Lampedusa, Rechtspopulismus. Man kann viele Probleme auf diese eine Krise zurückführen, auf die Aushöhlung der Demokratie, die doch als europäische Kernkompetenz verstanden wird. Dieser Thematik nahm sich die #FixEurope Konferenz an, die von der Zivilgesellschaftsorganisation European Alternatives in der Heinrich-Böll-Stiftung veranstaltet wurde.
#FixEurope Konferenz der European Alternatives
Die Eröffnungsrede der Konferenz hielt Saskia Sassen, Soziologin an der Columbia Universität und bekannt für ihre Forschung zum Thema Globalisierung. So leitete Sassen dann auch über größere globale Zusammenhänge zum Thema europäischer Demokratisierung hin. Sie definierte den Finanzmarkt als „Motor unserer Zeit“ und wies darauf hin, dass das System dieses Sektors unbeschadet durch die Krise gegangen sei. Denn während zum Beispiel in den USA in den vergangenen Jahren massenweise Angestellte und Beamte entlassen wurden, stieg dort gleichzeitig die Vermögenskonzentration in den oberen Gesellschaftsschichten und Unternehmen.
Wir müssen unsere Bürgerschaft gestalten, anstatt sie nur zu konsumieren
Sassen resümierte, dass sich die Institution Nationalstaat im Abstieg befinde. Sassens Lösungsvorschlag: Wir Bürger müssen den vom Staat freigewordenen Platz okkupieren. Wie auch andere an diesem Nachmittag appellierte sie damit an eine starke und aktive Zivilgesellschaft, die ihre Interessen organisiert und für sie einsteht. Präziser wurde sie nur, als sie auf die wichtige Rolle der von der Gesellschaft Ausgeschlossenen hinwies. Außenseiter seien immer entscheidend gewesen, wenn es darum ging, mehr Rechte zu erstreiten. In unserer heutigen Welt seien diese Außenseiter vornehmlich Immigranten. Zusammenarbeit und das Voneinander-lernen, von Sassen eindringlich gefordert, machen für die Soziologin den Unterschied zwischen einem bloßen Konsumieren der Bürgerschaft und ihrer Gestaltung („making citizenship“).
Für Hauke Brunkhorst, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Flensburg, liegt Europas Problem nicht bei einer fehlenden Zivilgesellschaft. Denn die sei sehr wohl vorhanden, genau wie eine öffentliche Meinung. Allerdings seien die europäischen Institutionen dazu konzipiert, Konflikte zu vermeiden und eben diese öffentliche Meinung zu umgehen. Dem „Erpressungspotential“ der transnationalen Wirtschaft sei deshalb auf Bürgerebene nichts entgegenzusetzen. Eine transeuropäische Alternative zu nationalen Gewerkschaften wäre für Brunkhorst daher ein wichtiger Schritt. Wie genau eine solche Organisation allerdings etabliert werden könne, das - so gab er zu - wisse niemand so genau.
Europäische Republik statt Vereinigter Staaten von Europa
Ulrike Guérot, Gründerin des progressiven Projekts „European Democracy Lab“, betonte, dass die Debatte über die „Vereinigten Staaten von Europa“ überholt sei. Ziel transnationaler Anstrengungen müsse eine Europäische Republik mit den Bürgern im Mittelpunkt sein. Doch das existierende System selbst könne nicht die nötigen Lösungen liefern. Auf die rhetorische Frage, ob also eine Revolution nötig sei, antwortete Guérot daher auch ganz eindeutig: „Verdammt, ja!“.
Beppe Caccia, Mitherausgeber von globalproject.info und früher aktiv im Stadtrat Venedigs, wies darauf hin, dass gerade die Unvollkommenheit des europäischen Projekts es offen für Aktionen „von unten“ mache. Dadurch werde Europa gewissermaßen ein Schlachtfeld, das von „uns“, also von progressiven, pro-europäischen Kräften genutzt werden müsse. Der Hauptaspekt müsse laut Caccia dabei eindeutig auf das Thema „Demokratie“ gerichtet werden. Denn während er transnationale Bewegungen wie Blockupy für äußerst geeignet befand, um die Finanzpolitik Europas zu kritisieren, reiche das allein nicht aus. Von der Protestbewegung forderte er, Themen wie eben die Finanzkrise und die ökologische Krise als zwei Seiten der gleichen Medaille zu betrachten. Denn beide Seiten gingen auf Probleme der Ungleichheit und einer ausgehöhlten Demokratie zurück.
Ein Problem für Protestbewegungen bleibt dabei aber weiterhin ungelöst, wie Igor Štiks von der Universität Edinburgh anerkannte: sollen breite Protestbewegungen den „Weg durch die Institutionen“ gehen, die sie kritisieren? Beispiele wie Podemos in Spanien zeigen, dass ein Eintritt in die Politik vielversprechend sein kann. Allerdings fürchten manche bereits Verrat an der eigenen Sache. Die „Angst vor schmutzigen Händen“, die einem die Berufspolitik verpasst, sei bei vielen Aktivisten groß, so Štiks.
Die Konferenz selbst warf also sicher ebenso viele Fragen auf, wie sie beantwortete. Und dennoch machte sie Hoffnung. Dies gilt nicht zuletzt für den Veranstalter European Alternatives, in Berlin vertreten durch Daphne Büllesbach. Denn der setzt bereits in die Tat um, was viele bei #FixEurope forderten. Die Projekte der Organisation dienen der Vernetzung verschiedener lokaler Aktivsten, wie bei dem #FixEurope Campus, der der Konferenz voranging. Hier trafen sich Aktivisten aus verschiedenen Ländern in Brandenburg, um in Workshops Fragen zu einem transnational demokratischen Europa und wirkungsvollem Aktivismus zu bearbeiten. Auch die praktische Anwendung transnationaler, partizipativer Meinungsfindung wurde von der Organisation bereits erprobt. Im Vorlauf zur Europawahl organisierte sie das Projekt eines „Bürgermanifests“, das durch deliberative Entscheidungsprozesse in verschiedenen europäischen Ländern unter Mitarbeit tausender Bürger verfasst wurde. Sowohl die Entstehungsweise als auch der Inhalt dieses Manifests können als konkrete Vorschläge für ein demokratischeres Europa verstanden werden.
Nationalismus ist der grundlegend falsche Ansatz
Ein Kommentar von Hannah Gundert
Die Krise der Demokratie in Europa ist nicht nur im Sinne eines technokratischen „Demokratiedefizits“ zu verstehen, das durch bürgerferne EU-Institutionen entsteht. Das Problem geht weit darüber hinaus. Einfache Lösungen wie mehr Kompetenzen für das Europäische Parlament oder die Aufstellung von Spitzenkandidaten mögen in die richtige Richtung gehen, reichen aber längst nicht mehr aus. Während die Globalisierung von Wirtschaft und Finanzen, von Machtgefügen und Entscheidungsprozessen längst und unumkehrbar voranschreitet, bleiben Legitimationsmechanismen, zivile Einflussnahme und Gewaltenteilung zurück. Kurz: die Transnationalisierung der Demokratie steht weiterhin aus.
Die nationale Ebene, auf der demokratische Mechanismen größtenteils verhaftet geblieben sind, reicht für tatsächliche Mitentscheidung und Einflussnahme längst nicht mehr aus. Nicht nur „typisch internationale“ Themen wie Klimaschutz, Transport und Terrorismusbekämpfung bedürfen der übernationalen Zusammenarbeit. Durch Flexibilität und Einfluss multinationaler Unternehmen und der Finanzwelt sind viele traditionell nationale Themen längst nicht mehr im Rahmen einzelner Staaten ausreichend beeinflussbar. Dazu gehören so breite Komplexe wie Arbeit, soziale Gerechtigkeit, oder Haushaltsführung. Das haben viele Europäer in den letzten Jahren am eigenen Leib erfahren.
Das Erstarken nationalistischer und rechtspopulistischer Kräfte ist angesichts der schwindenden Bedeutung der gewohnten Kategorie Nationalstaat zwar kaum verwunderlich, aber umso beunruhigender. Das liegt nicht nur an den mehr als zweifelhaften Werten der Rechten. Der reaktionäre Reflex einer Rückkehr zum vertrauten Konzept der Nation und dem Nationalstaat ist schlichtweg falsch. Denn er löst nicht die Probleme, die ihn hervorrufen. Das Problem ist nicht zu viel Europa, wie Nationalisten den von EU-Bürokratie und Krise verunsicherten Bürger glauben machen möchten.
Kommentare verfolgen: |