„Wir wollen eine europäische Öffentlichkeit schaffen“

, von  Marcel Wollscheid

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„Wir wollen eine europäische Öffentlichkeit schaffen“
Copyright: kietz.fm, zur Verfügung gestellt für treffpunkteuropa.de

Mit dem Projekt „Von Kiez zu Kiez“ wollen lokale Medien in mehreren europäischen Städten einen grenzüberschreitenden Bürgerdialog über Themen wie Jugendarbeitslosigkeit oder Asylpolitik starten. Im Interview mit treffpunkteuropa.de spricht Initiator Adrian Garcia-Landa vom Berliner Radiosender Kiez.FM über Ablauf, Ziele und Partizipationsmöglichkeiten des Projekts.

treffpunkteuropa.de: Worum geht es bei „Von Kiez zu Kiez“?

Adrian Garcia-Landa: Von Kiez zu Kiez vergleicht ein Thema in zwei EU-Städten. Die Hauptidee ist eine EU-Öffentlichkeit auf Nachbarschaftsebene herzustellen, indem man sich anschaut, wie zum Beispiel Jugendarbeitslosigkeit in Lille-Tourcoing (hoch) und in Berlin-Wedding (niedrig) aussieht. Insgesamt werden 6 Themen über 18 Monate behandelt. Berlin ist immer eine der Vergleichstädte, die andere wird je nach Thema ausgesucht.

Es geht aber nicht nur um einen sachlichen Themenvergleich. Das Projekt ist so gebaut, dass Betroffene nicht nur ihre Lage besprechen, sondern auch „lernen“ sollen, wie sie sich engagieren können, um diese zu ändern. Dafür werden sie mit den Verantwortlichen auf lokaler, nationaler und EU-Ebene zusammengebracht.

Dabei arbeiten wir mit nicht-kommerziellen Medien zusammen. Nicht nur, weil Kiez.FM selber ein nicht-kommerzielles Radio ist. Sondern weil dieser Typ Medien meist lokal sehr verwurzelt ist und die gesellschaftliche Vielfalt widerspiegelt, viel mehr als etwa Sparten-Sender.

Wie kam es zu der Idee für das Projekt?

Ich mache seit Oktober 2013 eine monatliche Radio-Sendung im EU-Parlament, Europhonica, gemeinsam mit Radio Campus aus Frankreich. Bei den ersten Sendungen habe ich mir immer ein Thema in Frankreich und Deutschland angeguckt. Zum Beispiel direkte Demokratie: welche Instrumente gibt es da in beiden Ländern? Parlamentarismus: wieviel Einfluss hat der Bundestag, die Assemblée Nationale, das Europäische Parlament? Dabei habe ich festgestellt, dass man durch diese sehr klare Fragestellung sehr viel über beide Länder erfährt und von den verschiedenen Modellen lernt. Ich fand es schade, diese Mechanik nur auf Frankreich und Deutschland zu beschränken. Da es noch dazu in jeder mittleren oder größeren Stadt Europas ein nicht-kommerzielles Radio/TV gibt, das meistens sehr lokal verankert ist, dachte ich, so könnte eine Frage zwei Kieze verbinden.

Warum sind die sechs Themenfelder Jugendarbeitslosigkeit, Unionsbürgerschaft, Asylpolitik, Ausbildung & Mobilität, Minderheiten und digitale Wirtschaft/Datenschutz besonders relevant für das Projekt?

Ursprünglich wollten wir 12 Themen behandeln, pro Bezirk Berlins ein Thema, das hätte aber 3 Jahre gedauert. Als haben wir uns für 6 entschlossen. Die Projektentwickler haben die Themen ausgesucht, die ihnen am meisten am Herzen lagen. Alle Themen sind aber in meinen Augen relevant: bei Jugendarbeitslosigkeit entsteht in gewissen Ländern Europas eine verlorene Generation, in anderen läuft alles wie geschmiert. Die digitale Wirtschaft und die Konsequenz für Datenschutz sehen die einen als notwendige aber bedrohliche Entwicklung, die anderen als Chance und entwickeln wasserdichte Schutzmechanismen. Studenten profitieren mühelos von Europa dank Erasmus, aber gilt das auch für Azubis? Vielleicht können die einen von den anderen lernen, um ihre Situation zu verbessern? Wir haben die Themen ausgesucht, die uns relevant erschienen. Letztlich beruht es aber auf die Neugierde und Lust, die wir dafür haben.

Mit den Radiosendungen und Fokusgruppen wollt ihr eine „neue europäische Öffentlichkeit“ ansprechen, wie der Projektbeschreibung zu entnehmen ist. Was ist darunter zu verstehen und was zeichnet diese „neue“ Öffentlichkeit aus?

Haben wir von neuer gesprochen? Ich glaube nicht. Vielmehr wollen wir eine europäische Öffentlichkeit schaffen, und zwar ist das neue daran, dass diese auf Nachbarschaftsebene entstehen soll. Die EU ist ein Top-Down-Projekt. Es ist ein Projekt von Eliten, was an und für sich ok ist. Nur wird die demokratische Legitimation vieler EU-Institutionen oft in Frage gestellt, bis auf die vom Parlament. Bürger können den Eindruck bekommen, dass sie nicht gefragt werden, wohin die Reise geht.

Laut Eurobarometer, die Umfrage zur EU die zweimal jährlich durchgeführt wird, versteht eine Mehrheit der EU-Bürger die Union nicht wirklich, fühlt sich schlecht informiert, nicht mitgenommen. Die EU wirkt fern, dabei bestimmt sie massgeblich unseren Alltag, besonders auf lokaler Ebene, aber hinter den Kulissen.

Wir wollen Bürgern die EU näher bringen und die fernen EU-Menschen aus ihrem Brüsseler Elfenbeinturm, oder Käseglocke, herausholen. Die EU muss in die Viertel Europas gehen und mit den Bürgern sprechen. Und die Bürger sollen, anstatt sich zu desinteressieren, sich auf einen Dialog einlassen. Sehr gerne kritisch, lebhaft, kontrovers, aber konstruktiv. Ich bin sicher, dass dabei etwas sehr sinnvolles entstehen wird. Von Kiez zu Kiez zeigt eine Alternative zum Desinteresse und soll Bürger das Rüstzeug geben, sich für sich zu engagieren und ihnen zeigen, wie sie das auf lokaler, nationaler und EU Ebene machen können. In einem Wort, sie sollen sich Fragen: Was kann ich tun, damit die Politik was für mich macht.

Das Projekt wandert durch Poltik-Ebenen und Medienformate. Dabei setzt voll auf das gesprochene Wort: von den Fokus Gruppen um weiche Faktoren zu ermitteln, über die Radio und TV-Sendungen, um jene mit Fakten zu konfrontieren, bis hin zur öffentlichen Diskussion, die alle vorhergehenden Stufen vereint. Das gesprochene Wort ist übrigens der Ursprung und Kern des Parlementarismus.

Wie wird das Projekt finanziert?

Bis jetzt noch gar nicht. Es soll aber durch den Fonds Europa für Bürger*Innen finanziert werden. Wir haben Anfang März eingereicht, die Antwort erwarten wir Ende Juni.

Die Robert Bosch Stiftung hat uns vorgeschlagen, für das Thema Jugendarbeitslosigkeit um eine Zusatzfinanzierung anzususchen. Mit dem Extra-Geld können wir das Thema nicht nur in Deutschland und Frankreich behandeln, sondern auch in Belgien und Österreich, mit den Radios Panik aus Brüssel und Orange aus Wien. Somit gibt es eine kulturelle Dimension, die über die Strukturen einzelner Länder hinausgeht.

Um den Zuschlag zu kriegen brauchen wir Unterstützung, da die Bosch-Stiftung die Projekte zur Online-Wahl gestellt hat. Wenn Euch das Projekt gefällt, dann wählt dafür hier.

Wie können Interessierte mitmachen?

Wir freuen uns wenn Medien jeglicher Art mitmachen. Bisher machen Café Babel, Radio Campus Frankreich, Radio Panik (Brüssel), Radio Orange (Wien), Radio Talos und Civil Radio (beide Budapest), Radio FM100 und TV100 (Thessaloniki), KLFM (Split, HR), Radio & TV RTVA (Amstelveen, NL), Tudeng.tv (Tallinn, EE) mit.

Medienpartner kriegen vollen Zugang zu allen Inhalten und Kontakten, die im Laufe des Projektes entstehen. Wir selber werden viele Inhalte produzieren: 2 Fokus Gruppen in den 2 Städten, 2 Radiosendungen in den Städten, 1 TV-Sendung im EP, eine öffentliche Diskussion in Berlin (gefilmt). Die Leute die mitmachen, können das alles für ihre Arbeit nutzen. Gerne auch um das Projekt zu kritisieren, oder auf die Mängel hinzuweisen. Wir wissen dass journalistische Produktionen nicht der Weisheit letzter Schluss sind. Deswegen freuen wir uns, wenn ganz andere Blicke und Interpretationen durch Von Kiez zu Kiez entstehen.

Die Fragen für treffpunkteuropa.de stellte Marcel Wollscheid.

Zur Person und mehr zum Projekt: Adrian Garcia-Landa arbeitet als Redakteur für das freie Berliner Radio Kiez.FM und ist der Initiator des Projekts „Von Kiez zu Kiez“. Kiez.FM und treffpunkteuropa.de führen seit 2016 eine Medienpartnerschaft. Mehr zu dem Projekt „Von Kiez zu Kiez“ findet Ihr auf der Webseite oder auf Facebook. Die Förderung des Projekts durch die Robert Bosch Stiftung könnt ihr per Abstimmung unterstützen.

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